2. Reformen angehen, Regeln einhalten
Mark Rutte, der Regierungschefs der Niederlande, ist jemand, der im Kreis von Europas Regierungschef nicht oft auffällt. Meist hält er zu den Deutschen, ansonsten ist er froh, wenn er nicht als zu polarisierend wahrgenommen wird. Nun aber sitzt er auf einem dieser unzähligen Podien dieser Tage in Davos und spricht recht deutliche Worte. Er sieht die Verantwortung für das Auseinanderdriften der EU vor allem im Süden. „Frankreich und Italien müssen endlich die nötigen wirtschaftlichen Reformen durchsetzen“, sagt Rute. „Wenn diese Länder sich nicht ändern, hat Europa große Probleme.“
Unter den Managern in Davos sagt das niemand so offen, aber auch hier heißt es: Die Regeln müssen eingehalten werden oder so angepasst werden, dass sie einzuhalten sind. Sonst habe Europa keine Zukunft. Was damit gemeint ist? Stabilitätspakt, wirtschaftliche Reformen. Durchaus aber auch ein Eingeständnis Deutschlands, es mit der europäischen Solidarität weiter ernst zu halten.
Welche deutschen Branchen der Brexit treffen könnte
Jedes fünfte aus Deutschland exportierte Auto geht laut Branchenverband VDA ins Vereinigte Königreich. Präsident Matthias Wissmann warnte daher vor Zöllen, die den Warenverkehr verteuerten. BMW etwa verkaufte in Großbritannien 2015 rund 236 000 Autos - über 10 Prozent des weltweiten Absatzes. Bei Mercedes waren es 8 Prozent, bei VW 6 Prozent. BMW und VW haben auf der Insel zudem Fabriken für ihre Töchter Mini und Bentley. Von „deutlich geringeren Verkäufen“ in Großbritannien nach dem Brexit-Votum berichtete bereits Opel. Der Hersteller rechnet wegen des Entscheids 2016 nicht mehr mit der angepeilten Rückkehr in die schwarzen Zahlen.
Für die deutschen Hersteller ist Großbritannien der viertwichtigste Auslandsmarkt nach den USA, China und Frankreich. 2015 gingen Maschinen im Wert von 7,2 Milliarden Euro auf die Insel. Im vergangenen Jahr liefen die Geschäfte weniger gut. In den ersten zehn Monaten 2016 stiegen die Exporte nach Großbritannien dem Branchenverband VDMA zufolge um 1,8 Prozent gemessen am Vorjahr. 2015 waren sie aber noch um 5,8 Prozent binnen Jahresfrist gewachsen. Mit dem Brexit sei ein weiteres Konjunkturrisiko für den Maschinenbau dazugekommen, sagte VDMA-Präsident Carl Martin Welcker im Dezember.
Die Unternehmen fürchten schlechtere Geschäfte wegen des Brexits. Der Entscheid habe bewirkt, dass sich das Investitions- und Konsumklima in Großbritannien verschlechtert habe, sagte jüngst Kurt Bock, Präsident des Branchenverbands VCI. Für die deutschen Hersteller ist Großbritannien ein wichtiger Abnehmer gerade von Pharmazeutika und Spezialchemikalien. 2016 exportierten sie Produkte im Wert von 12,9 Milliarden Euro ins Vereinigte Königreich, rund 7,3 Prozent ihrer Gesamtexporte.
Für Elektroprodukte „Made in Germany“ ist Großbritannien der viertgrößte Abnehmer weltweit. 2015 exportierten deutsche Hersteller laut Branchenverband ZVEI Waren im Wert von 9,9 Milliarden Euro in das Land, 9,5 Prozent mehr als im Vorjahr. Im vergangenen Jahr liefen die Geschäfte mit dem Vereinigten Königreich nicht mehr so gut. Nach zehn Monaten verzeichnet der Verband ein Plus bei den Elektroausfuhren von 1,7 Prozent gemessen am Vorjahr. Grund für die Eintrübung seien nicht zuletzt Wechselkurseffekte wegen des schwachen Pfunds, sagte Andreas Gontermann, Chefvolkswirt des ZVEI.
Banken brauchen für Dienstleistungen in der EU rechtlich selbstständige Tochterbanken mit Sitz in einem EU-Staat. Derzeit können sie grenzüberschreitend frei agieren. Mit dem Brexit werden Barrieren befürchtet. Deutsche Geldhäuser beschäftigten zudem Tausende Banker in London, gerade im Investmentbanking. Die Deutsche Bank glaubt indes nicht, dass sie ihre Struktur in Großbritannien „kurzfristig wesentlich“ ändern muss. Die Commerzbank hat ihr Investmentbanking in London schon stark gekürzt. Um viel geht es für die Deutsche Börse. Sie will sich mit dem Londoner Konkurrenten LSE zusammenschließen. Der Brexit macht das Projekt noch komplizierter.
3. Lieber grobe Leitplanken, an die sich alle halten, als Mikromanagement, das alle ignorieren
Einer, der den Zustand Europas kritisch und dennoch konstruktiv sieht, ist Österreichs Bundeskanzler Christian Kern. Seit achteinhalb Monaten gehört der Sozialdemokrat mit Manager-Vorleben dem Kreis der Regierungschefs an. Und er glaubt: So wie bisher kann es in Europa nicht weitergehen. Es ziehe sich eine Schwerfälligkeit durch viele Politikbereich der EU, findet Kern, die womöglich auch daran liege, dass viel Mikromanagement betrieben werde, anstatt sich auf die großen Leitlinien zu einigen, die dann allen den Weg vorgäben. Als Beispiel nennt er die europäische Stahlpolitik: Während Europa sich über Grundsatzdiskussionen, wie man mit chinesischen Billigimporten umzugehen habe, weil jedes Land Chinas Status als Marktwirtschaft anders definiere, gingen Jahr für Jahr 30.000 Jobs in Europas Stahlindustrie verloren. Mit einer Wirtschaftspolitik, die sich auf die großen Frage konzentriere und hinter der sich alle versammeln könnten, passiere das womöglich nicht. Ändere sich das nicht, „dann steht Europa vor wirklich großen Problemen.“
Und der niederländische Ministerpräsident Rutte findet, Europas Mikromanagement für zu einer solchen Vielzahl an Regeln, die dann nicht mehr überwachbar seien: „Zu wenige Länder tun dann, was sie tun sollten. Und dann hält Europa sein Versprechen nicht, die Gesellschaften des Kontinents auf ein neues Level des Wohlstands zu heben.“
Ob diese Reformen kommen? Und ob der Veränderungsdruck groß genug ist? Womöglich hat ausgerechnet May den Europäern nun keine Wahl gelassen, sich dieser Debatte zu stellen. Sie jedenfalls ist optimistisch, als sie in Davos ihre Rede beendet: Das Vereinigte Königreich wird gestärkt aus diesen Herausforderungen gehen, als wahrlich weltoffenes Land. Und als Freund Europas.“