Tote und Verletzte in Kiew EU beruft Sondersitzung zu Ukraine ein

In der Ukraine eskaliert die Situation. Präsident Janukowitsch verteidigt den Einsatz von Gewalt. Die Europäische Union hat für Donnerstag ein Sondertreffen der EU-Außenminister einberufen. Sanktionen werden nun immer wahrscheinlicher.

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Der Maidan steht in Flammen
Der berühmte Maidan, der Unabhängigkeitsplatz in Kiew, steht in Flammen. Ein Demonstrant schützt seine Augen, während er Stacheldraht um das Feuer zieht. Quelle: dpa
Sicherheitskräfte stürmten in der Nacht auf Mittwoch (19. Februar) den von Demonstranten besetzten Unabhängigkeitsplatz. Auf beiden Seiten gab es Tote und Verletzte, als die Situation eskalierte. Quelle: dpa
Die meisten Todesopfer starben durch Schusswunden, wie Vertreter von Behörden und Opposition erklärten. Hunderte Menschen wurden verletzt, dutzende von ihnen schwer. Quelle: dpa
Die Regierungsgegner setzten zahlreiche Barrikaden in Brand, um die Polizei zu vertreiben. Der Maidan verwandelte sich in ein Flammenmeer, Rauchsäulen steigen in den Himmel. Quelle: dpa
Die Unruhen weiteten sich auf mehrere Städte im Westen des Landes aus. In Stanislau und Lemberg besetzten Demonstranten am späten Dienstagabend nach Polizeiangaben mehrere Verwaltungsgebäude der Regionalregierung. In Ternopil wurde das Polizeihauptquartier in Brand gesetzt, wie Medien berichteten. Nach Angaben eines Oppositionspolitikers besetzten Demonstranten zudem das Gebäude der Staatsanwaltschaft. Quelle: dpa
Die ehemalige Sowjetrepublik erlebte den bislang blutigsten Tag seit Beginn ihrer Unabhängigkeit vor mehr als 20 Jahren. Demonstranten warfen mit Steinen und Molotowcocktails. Quelle: dpa
Ein Ende der Gewalt ist nicht in Sicht: Ein nächtliches Krisentreffen von Präsident Viktor Janukowitsch mit Oppositionsführern blieb ohne Ergebnis. Quelle: dpa

Brennende Reifen, Tränengasschwaden und tödliche Schüsse: Bei den schwersten Ausschreitungen in der Ukraine seit Ende der Sowjetunion sind in Kiew nach neuesten Angaben des Gesundheitsministeriums mindestens 25 Menschen ums Leben gekommen. Hunderte Menschen - Demonstranten wie Sicherheitskräfte - wurden verletzt. Tausende Polizisten stürmten am Dienstagabend ein Protestlager der Opposition auf dem Unabhängigkeitsplatz Maidan. Rund 20.000 Regierungsgegner setzten sich mit Steinen, Knüppeln und Brandbomben zur Wehr und sangen dabei die Nationalhymne.

Angesichts der Eskalation der Gewalt hat die Europäische Union für Donnerstag ein Sondertreffen der 28 EU-Außenminister in Brüssel einberufen. Das bestätigte die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton. Am Mittwoch waren bereits die Botschafter der EU-Regierungen zusammengekommen. Dabei ging es laut Ashton auch um die Vorbereitung von „restriktiven Maßnahmen gegen die Verantwortlichen für Unterdrückung und Menschenrechtsverletzungen“. Die EU prüfe „alle Optionen“ der Reaktion auf das Blutvergießen. EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso zeigte sich zuversichtlich, dass es einen Sanktionsbeschluss geben werde. Die „restriktiven Maßnahmen“ der EU könnten vor allem EU-Einreiseverbote für Janukowitsch und seine engsten Vertrauten sein. Dazu gehört stets auch das Einfrieren von Konten in der EU. Auch könnte die EU bestimmte Unternehmen auf eine „schwarze Liste“ setzen.

Nach Angaben des Innenministeriums sind unter den Todesopfern der Straßenschlachten in der Nacht auch neun Polizisten. Eine Polizeisprecherin sagte, bei den Opfern auf beiden Seiten gebe es mehrere tödliche Schussverletzungen. Mehr als 240 Verletzte mussten im Krankenhaus behandelt werden, wie das Gesundheitsministerium am Mittwochmorgen bekanntgab.

Zahlreiche Zelte auf dem Platz im Zentrum der Stadt gingen in Flammen auf, als die Polizei einschritt. Die Sicherheitskräfte kamen mit Wasserwerfern und Blendgranaten. „Hier sieht es aus wie in einem Krieg gegen das eigene Volk“, sagte Dmitro Schulko, einer der Demonstranten. Der 35-Jährige trug eine Brandbombe in den Händen, bereit, sie zu werfen. „Wir werden uns selbst verteidigen“, sagte er.

Oppositionsführer und Ex-Boxweltmeister Vitali Klitschko trieb die Menschen auf dem Maidan zum Widerstand an. „Wir werden nirgendwo hingehen“, rief er. „Dies ist eines Insel der Freiheit und wir werden sie verteidigen." Noch am Abend traf Klitschko Präsident Viktor Janukowitsch zu einem Krisengespräch. Anschließend erklärte er, es sei zu keiner Verständigung gekommen, wie die Situation entschärft werden könne. Er habe Janukowitsch aufgefordert, die Räumung des Platzes zu stoppen, damit es nicht noch mehr Tote gebe. Der Präsident habe nur gesagt, die Demonstranten sollten nach Hause gehen und mit ihren Protesten aufhören. „Ich bin sehr unglücklich, weil es keine Diskussion gab“, sagte Klitschko. „Sie wollen nicht zuhören."

Viktor Janukowitsch verteidigte den Einsatz von Gewalt gegen Regierungsgegner. Die Opposition habe die „Grenzen überschritten“, als sie ihre Anhänger auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew „zu den Waffen gerufen“ hätten, teilte Janukowitsch in der Nacht zum Mittwoch mit. Es handle sich um „Kriminelle, die vor Gericht gehören“. Der Staatschef warf den proeuropäischen Regierungsgegnern den Versuch einer gewaltsamen Machtübernahme vor. Sollten sich die Oppositionsführer nicht von radikalen Kräften distanzieren, werde er „andere Töne anschlagen“.

Gysi: "Wie wär's mit Gerhard Schröder als Vermittler?"

Ein Bild aus dem Jahr 2005 zeigt Altkanzler Schröder und Russlands Präsidenten Putin im Gespräch. Linken-Politiker Gysi hat Schröder als Vermittler für der Konflikt in der Ukraine vorgeschlagen. Quelle: AP

UN-Generalsekretär Ban Ki Moon zeigte sich geschockt von der Eskalation und der „inakzeptablen Gewalt“. Er forderte, dass wieder unverzüglich Gespräche aufgenommen werden, um schnell zu greifbaren Ergebnissen zu kommen. Weitere Instabilität und weitere Unruhen zu verhindern habe jetzt absolut höchste Priorität“, erklärte UN-Sprecher Martin Nesirky.

US-Vizepräsident Joe Biden äußerte sich in einem Telefonat mit Janukowitsch äußerst besorgt über die Eskalation. Er habe Janukowitsch aufgefordert, die Sicherheitskräfte zurückzurufen und maximale Zurückhaltung zu üben, erklärte das Präsidialamt in Washington. Die Regierung trage eine besondere Verantwortung dafür, für Entspannung zu sorgen. Biden habe erneut einen politischen Dialog mit der Opposition gefordert, um den Forderungen der Demonstranten nachzukommen und politische Reformen auf den Weg zu bringen. Die USA wollten weiterhin alle Bemühungen für eine friedliche Lösung der Krise unterstützen.

Die wirtschaftliche Bedeutung der Ukraine

Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel versuchte am Dienstagabend mehrmals, Janukowitsch am Telefon zu erreichen, wie die "Welt" unter Berufung auf einen Regierungssprecher berichtete. Es sei aber nicht zu einem Gespräch gekommen. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier sprach von bestürzenden Nachrichten aus der Ukraine. Europa werde "mit Sicherheit" seine bisherige Zurückhaltung zu Sanktionen gegen Einzelpersonen überdenken, fügte er hinzu. Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton rief beide Seiten auf, die Gewalt rasch zu beenden.

Der Fraktionsvorsitzende der Linkspartei, Gregor Gysi, hat unterdessen Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder als Vermittler ins Spiel gebracht. Es müsse eine Lösung gefunden werden, mit der sowohl die Ukraine als auch Russland und die EU leben könnten, sagte Gysi am Mittwochmorgen im Deutschlandfunk. "Vielleicht muss man mal Leute heranziehen, die gut mit Putin sprechen können", sagte Gysi. "Bei allen meinen sonstigen Vorbehalten: Wie wär's mit Gerhard Schröder?" Ohne Moskau werde es keine Lösung geben. "Da muss jetzt mal jemand hin, der deutliche Worte spricht und der auch die Chance hat, zum Beispiel mit Putin diesbezüglich zu sprechen und zu verhandeln." Schröder werden gute Beziehungen zum russischen Staatspräsidenten nachgesagt.

Die Proteste begannen, als Janukowitsch im Herbst ein unterschriftsreifes Abkommen mit der Europäischen Union auf Eis legte und sich stattdessen Russland zuwandte. Die wirtschaftliche Abhängigkeit von Russland sehen viele Ukrainer skeptisch. In den russischsprachigen östlichen und südlichen Regionen des Landes dagegen ist Janukowitsch weiter populär. Hier sind die wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zu Russland stark.

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