
Fürchterliches Chaos hatten die Experten aus dem Rest Europas den Griechen prophezeit, diesen Montag nun auch wirklich! Am Vorabend hatten die Einwohner des kleingesparten Pleite-Staats per Referendum gegen die von Brüssel forcierte Spar- und Reformpolitik gestimmt. Doch es passiert – mal wieder – nichts.
Athen geht gelassen dem Alltag nach, vor den Geldautomaten bilden sich wie jeden Tag Schlangen, aber unterm Strich haben sich die Griechen schlicht an die Krise gewöhnt.
Im Gegenteil, der Montag hält sogar eine positive Überraschung bereit: Finanzminister Yanis Varoufakis nimmt mit sofortiger Wirkung seinen Hut, was insbesondere den deutschen Kämmerer Wolfgang Schäuble (CDU) versöhnlich stimmen dürfte. Der schien schier verzweifelt zu sein an der Arroganz des exzentrischen Spieltheoretikers aus Athen, der Spar-Kommissare wie ihn indirekt als „Terroristen“ bezeichnet hatte und den Austeritäts-Fanatikern gern den Stinkefinger zeigt.
An Griechenland hängt mehr als nur der Euro
Seit Wochen betonen die Euro-Partner, dass die Ansteckungsgefahr nach einem Ausscheiden Griechenlands aus der Euro-Zone eher gering wäre. Zum einen wird darauf verwiesen, dass sich heute fast alle griechischen Schulden bis auf 40 bis 50 Milliarden Euro in der öffentlichen Hand befinden - eine Kettenreaktion kollabierender Banken also nicht zu befürchten sei. Zum anderen hätten sich Gläubiger seit langem auf mögliche Probleme eingestellt und ihre griechischen Geschäfte reduziert.
Alles falsch, meint Schulz und verweist darauf, dass die Risikoaufschläge etwa für spanische Staatsanleihen in den vergangenen Wochen erheblich gestiegen seien. Kommt ein Staatsbankrott, würde der möglicherweise einen Schuldenschnitt nach sich ziehen - mit erheblichen Belastungen für die klammen Haushalte etwa der südlichen EU-Staaten, aber auch Frankreichs.
Außerdem könnte das Vertrauen in den Euro als Währung weltweit Schaden nehmen, wenn eines der 19 Mitglieder ausbreche, heißt es in der Bundesregierung. Dabei spiele keine große Rolle, dass Griechenland weniger als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Währungszone beisteuere. Denn die angebliche Unumkehrbarkeit der Euro-Einführung wäre widerlegt.
In Berlin fürchtet man aber auch, dass ein Kollaps Griechenlands den Befürwortern eines britischen Austritts aus der EU Auftrieb geben könnte. Europa droht also an seinen Rändern zu zerfasern. Der Grund ist einfach: Die EU wäre nach einem Ausstieg Athens wahrscheinlich in einem so desolaten Zustand und müsste so viel kurzatmige Rettungsaktionen für Griechenland starten, dass die Gemeinschaft auf britische Wähler kaum noch attraktiv wirken dürfte. Möglicherweise würden zudem mehr Griechen das eigene Land auch Richtung Großbritannien verlassen wollen. Die Briten schimpfen aber bereits jetzt über zu viele Migranten aus anderen EU-Ländern - dies ist einer der Kritikpunkte der EU-Gegner auf der Insel.
Griechenland ist nicht nur ein angeschlagener Euro-Staat, sondern auch ein schwieriger EU-Partner. Mit seiner Linksaußen- Rechtsaußen-Regierung betonte Ministerpräsident Alexis Tsipras politische Nähe zum Kreml und hat sich mehrfach mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin getroffen. In der EU gibt man sich zwar gelassen, dass Russland nicht als alternativer Geldgeber gegen die EU ausgespielt werden kann - dafür sind die nötigen Hilfssummen viel zu groß. Auch die Träume des Links-Politikers, dass Griechenland Verteilland für russisches Gas in der EU werden könnte, dürften sich angesichts des Vorgehens der EU-Kommission gegen den russischen Gasriesen Gazprom zerschlagen. Aber Putin hat nach Ansicht von EU-Diplomaten durchaus schon bewiesen, dass er Differenzen zwischen EU-Staaten ausnutzen kann. Bei der Verlängerung von EU-Sanktionen gegen Russland braucht es etwa auch die Zustimmung Griechenlands.
In Berlin sorgt man sich zunehmend, dass die gesamte Balkan-Region ohnehin sehr instabil werden kann. Immer noch gärt der Namensstreit zwischen Griechenland mit dem EU-Beitrittsaspiranten Mazedonien - in dem ein heftiger innenpolitischer Machtkampf tobt. Und Geheimdienste warnen, dass die radikalislamische Miliz Islamischer Staat (IS) in den vergangenen Monaten massiv versucht hat, in den moslemischen Bevölkerungen Bosnien-Herzegowinas, Albaniens oder Mazedoniens Fuß zu fassen. Ein zusammenbrechender Nachbarstaat Griechenland würde die Unruhe in der Region noch verstärken.
Kaum diskutiert worden ist die Rolle Griechenlands bei der Abwehr eines unkontrollierten Zuzugs von Flüchtlingen in die EU. In den vergangenen Jahren hat der bessere Schutz der griechisch-türkischen Grenze Flüchtlingen aus dem Nahen Osten die Einwanderung in die EU zumindest zum Teil erschwert. Die linke Syriza-Partei könnte im Falle eines Staatsbankrotts die Schleusen für afrikanische oder syrische Flüchtlinge aufmachen. Entsprechende Drohungen waren aus Athen bereits zu hören. Denn seit Jahresbeginn seien bereits 46.000 Flüchtlinge nach Griechenland gekommen, teilte die Internationale Organisation für Migration (IOM) mit. 2014 waren es im selben Zeitraum nur 34.000 Personen. Die Vereinten Nationen warnen bereits vor einer Flüchtlingskatastrophe in Griechenland.
EU-Kommissar Günther Oettinger forderte die Brüsseler Behörde auch deshalb auf, einen "Plan B" zu erarbeiten. Dabei soll Hilfe für das Land für den Fall eines Bankrotts vorbereitet werden. Neben humanitärer Hilfe gehe es um die Frage, wie man eigentlich die Sicherheit in dem EU-Land noch gewährleisten will, wenn die Regierung den Polizisten keine Löhne mehr zahlen kann.
Natürlich steckt Kalkül dahinter: Premierminister Alexis Tsipras will gegenüber den Gläubigern in Brüssel seine Kompromissbereitschaft unterstreichen. Er ist der festen Überzeugung, dass das per Referendum erzielte „starke Nein“ der Griechen seine Verhandlungsposition verbessern wird. Der 40-Jährige forciert einen neuen Schuldenschnitt; er will den Sparplan zusammenstreichen und hofft auf ein Wachstumsprogramm für sein Land. Dazu braucht er einen Finanzminister, der anders als der selbstherrliche Varoufakis kein Provokateur ist, sondern ein nüchterner Fachmann – und der ist auch schon gefunden: Euklid Tsakalotos soll übernehmen.
Es ist eine Personalentscheidung, die auf den ersten Blick wie ein Friedensangebot wirkt. Der 55-Jährige studierte in Oxford Politik, Philosophie, Ökonomie und promovierte in letzterem Fach, ehe er an Universitäten in Griechenland und Belgien unterrichtete. Bereits seit 2012 sitzt er für Syriza im griechischen Parlament, womit er über weitaus mehr politische Erfahrung verfügen dürfte als Varoufakis und die meisten seiner Abgeordneten-Kollegen zusammen.
Zwar trägt auch dieser Linke selten Schlips und Kragen, doch neigt immerhin er eher zum sachlichen und kühlen Verhandeln mit den Gläubigern. Das konnte er seit April beweisen, als er in der Funktion des Chef-Unterhändlers die Gespräche mit den Geldgebern übernahm.
Griechenlands Verflechtungen mit Russland
Viele Griechen und Russen sind Patrioten und stolz auf die Geschichte und den kulturellen Reichtum ihres Landes. Jetzt haben sie den Eindruck, dass ihnen einige westliche Politiker und viele Medien wegen des Handelns ihrer Regierungen negativ gegenüberstehen.
Im Gegensatz zu vielen anderen EU-Ländern und auch Deutschland kritisiert die griechische Regierung die westlichen Sanktionen gegen Russland. Das kommt gut an im Kreml, wo man sich im Gegenzug mit Kommentaren über den maroden griechischen Haushalt zurückhält. Griechenland steht in einigen internationalen politischen Fragen Seite an Seite mit Moskau: Zum Beispiel hat Athen genau wie Moskau niemals die Unabhängigkeit der Republik Kosovo anerkannt – im Gegensatz zu 109 Staaten der Vereinten Nationen.
Ungefähr 190.000 ethnische Griechen und Pontosgriechen leben in Russland, etwa an der russischen Schwarzmeerküste und in der Region Stawropol im Nordkaukasus.
In Griechenland leben rund 300.000 russische Staatsbürger. Griechenland ist bei Russen als Urlaubsland sehr beliebt, im vergangenen Jahr kamen mehr als eine Million russische Touristen nach Griechenland. Die Zahl ist jedoch im Vergleich zu den Vorjahren gesunken, weil der Urlaub im Ausland für viele Russen wegen des schwachen Rubel zu teuer geworden ist.
Drei von vier Russen bekennen sich zum orthodoxen Glauben, in Griechenland beträgt der Anteil der orthodoxen Christen mehr als 90 Prozent der Gesamtbevölkerung. Der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras ist jedoch Atheist: Bei der Amtseinführung verzichtete er als erster Ministerpräsident in der griechischen Geschichte auf die religiöse Eidesformel.
Russland ist Griechenlands wichtigster Handelspartner. 2013 betrug das Handelsvolumen rund 9,3 Milliarden Euro. 11 Prozent seiner Importe bezieht Griechenland aus Russland. Mehr als 60 Prozent seines Flüssiggases bekommt Griechenland von dem russischen Staatskonzern Gazprom. Auch im Finanzsektor gibt es enge Verbindungen. So halten russische Aktionäre große Anteile an der auch für Griechenland wichtigen "Bank of Cyprus“.
Griechenland ist von den russischen Lebensmittelsanktionen besonders betroffen, weil Russland bis August 2014 mehr als 40 Prozent der griechischen Agrarexporte empfing. 2013 hat Griechenland Früchte und Konserven im Wert von 178 Millionen Euro nach Russland ausgeführt. Griechische Pfirsiche und Erdbeeren waren in Russland besonders beliebt: Bis zu der Einführung des Lebensmittelboykotts kam fast jeder vierte Pfirsich und 40 Prozent der Erdbeeren auf dem russischen Importmarkt aus Griechenland.
Tsakalotos ist so etwas wie das Gegenmodell zum Selbstdarsteller Varoufakis, dies allerdings nicht nur in der Außenwirkung. Während der scheidende Finanzminister innerhalb der Syriza-Bewegung von Beginn an ein Fremdkörper war und sich mit seinem Spieltheorie-Wahn auch intern Feinde machte, gilt Tsakalotos als konzeptioneller Kopf aller wirtschaftspolitischer Strategien.
Die trug er zu Beginn dieses Jahres auch vor Irlands linksradikaler „Sinn Fein“-Bewegung vor, ebenso wird ihm eine gewisse Nähe zur spanischen Bewegung „Podemos“ nachgesagt. Wer den in Rotterdam aufgewachsenen Politiker voreilig zum Moderaten stempeln will, sei nach solchen Terminen also gewarnt.
Kurzum, der neue Finanzminister mag weniger polarisieren als sein Vorgänger, er dürfte einfacher im Umgang sein als der arrogante Oberlehrer mit der Lederjacke.
Den Gläubigern könnte es leichter fallen, von einem Tsakalotos die Friedenspfeife in Tsipras' Namen entgegenzunehmen und am Verhandlungstisch zu rauchen. Doch rasch dürfte sich auch bei ihm zeigen, dass er ideologisch nicht von den großen Linien der Linksradikalen abweicht: Syriza will der deutschen Sparpolitik in Europa ein Ende bereiten – und scheint bereit, die Gleichgesinnten in anderen EU-Krisenländern einzusammeln.
Der ideologische Konflikt von Austeritäts- versus Investitionspolitik sollte alsbald grundsätzlich aufgelöst werden. Sonst droht er die Europäische Union insgesamt zu spalten.