
Deutschland protestiert gegen die Inhaftierung von Welt-Korrespondent Deniz Yücel. Warum gibt sich die Türkei so kompromisslos?
Yücel ist Deutscher und Türke. Und da er eben auch den türkischen Pass hat, geht die Türkei in aller Härte gegen ihn vor. Das Land will so ein Zeichen gegen kritische Berichterstattung setzen und nimmt den Konflikt mit Deutschland in Kauf.
Geht das von Erdogan aus?
Die türkische Regierung sagt, die Justiz sei unabhängig. In der Türkei gibt es aber keinen unparteiischen Rechtsstaat mehr, weil Staatspräsident Erdoğan hunderte unliebsame Richter und Staatsanwälte entlassen und durch Getreue ersetzt hat. Staatsanwälte und Richter überlegen immer, ob eine Entscheidung im Interesse des Präsidenten liegt. Womöglich ist er nicht direkt involviert gewesen, die Justiz agiert aber in jedem Fall in seinem Sinne. Die Türkei ist eben kein Rechtsstaat mehr, zumal diese politischen Prozesse niemals gegen Anhänger von Erdoğan initiiert werden. In diesem Fall ist die parteiische Haltung der Justiz noch viel sichtbarer, da die kritische Berichterstattung den Schwiegersohn Erdoğans betrifft, der gleichzeitig Energieminister ist.
Zur Person
Dr. Roy Karadag leitet das Institut für Interkulturelle und Internationale Studien an der Universität Bremen. Der Politik- und Islamwissenschaftler hat über das politische und ökonomische System der Türkei promoviert.
Yücel berichtet schon lange kritisch über die Türkei. Warum wurde er gerade jetzt festgesetzt?
Erdoğan will ein Faustpfand gegenüber Berlin haben, er verlangt einen Preis und treibt ihn in die Höhe. Wenn die deutsche Bundesregierung Yücel zurückhaben will, muss sie sich überlegen, was sie Erdoğan anbieten kann.
An was wäre er interessiert?
Beispielsweise, dass AKP-Politiker im Wahlkampf zum Verfassungsreferendum frei in Deutschland sprechen dürfen. Oder dass sich die deutsche Regierung auch in Zukunft mit Kritik an der Türkei zurückhält.
Wann sind türkische Politiker in Deutschland aufgetreten?
Ministerpräsident Erdogan warnt die Türken in Deutschland vor zu viel Anpassung. „Assimilierung ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, sagt er vor etwa 16 000 Anhängern in Köln.
Bei seinem Auftritt vor rund 10 000 Menschen in Düsseldorf fordert Erdogan seine Landsleute zwar auf, sich zu integrieren, lehnt aber erneut eine völlige Anpassung ab: „Unsere Kinder müssen Deutsch lernen, aber sie müssen erst Türkisch lernen.“
Erdogan wirbt auf einer Veranstaltung unter dem Motto „Berlin trifft den großen Meister“ vor etwa 4000 Zuhörern um Stimmen für die bevorstehende Direktwahl des türkischen Präsidenten.
Nach dem Grubenunglück im türkischen Soma kritisiert Erdogan vor etwa 15 000 Anhängern in Köln die Berichterstattung in Deutschland. Erneut wirbt er für die Präsidentenwahl. Zur selben Stunde ziehen 45 000 Gegendemonstranten durch die Innenstadt.
Ministerpräsident Ahmet Davutoglu ruft in Berlin vor etwa 3000 Anhängern der AKP-Partei zu mehr Entschlossenheit im Kampf gegen Rassismus auf.
Im Vorfeld der Parlamentswahl in der Türkei fordert Staatschef Erdogan vor etwa 14 000 Anhängern in Karlsruhe, dass sich Menschen mit türkischem Migrationshintergrund integrieren, dabei aber Werte, Religion und Sprache ihrer Heimat bewahren.
Gut zwei Wochen nach dem gescheiterten Putsch in der Türkei spricht Sportminister Akif Cagatay Kilic in Köln auf einer Pro-Erdogan-Demonstration vor bis zu 40 000 Menschen. Eine Live-Zuschaltung des Präsidenten auf Großleinwand wurde angesichts der aufgeheizten Stimmung zuvor verboten.
Ministerpräsident Binali Yildirim wirbt vor rund 10 000 Menschen in Oberhausen für die Einführung des Präsidialsystems in der Türkei. Am Referendum im April können sich auch rund 1,4 Millionen wahlberechtigte Türken in Deutschland beteiligen.
Aus Sicherheitsgründen verweigert die Stadt Gaggenau dem türkischen Justizminister Bekir Bozdag einen Wahlkampfauftritt. Die Stadt Köln lehnt eine Anfrage für einen Auftritt von Wirtschaftsminister Nihat Zeybekci ab. Tags darauf platzt auch ein Auftritt Zeybekcis in Frechen bei Köln.
Die Deutschen dürften einen solchen Kuhhandel kaum gut finden.
Egal wie ein Kompromiss zwischen der Türkei und Deutschland aussieht. Die Deutschen werden nicht begeistert sein. Die Bundesregierung ist in einer echten Zwickmühle, aus der sie nicht so leicht rauskommt.
Die Kanzlerin könnte die diplomatischen Floskeln vergessen und Tacheles reden.
Könnte sie, wird sie womöglich auch. Aber das ist heikel – und damit meine ich nicht nur die Flüchtlingsfrage. Die geostrategische Bedeutung der Türkei ist insgesamt enorm gestiegen. Egal, was man in Syrien oder im Irak erreichen möchte – es hat sich bei allen relevanten Akteuren die Vorstellung durchgesetzt, dass das nur mit der Türkei möglich ist. Deutschland engagiert sich militärisch in beiden Ländern und muss mit der Türkei zusammenarbeiten, schließlich operiert die Bundeswehr vom türkischen Incirlik aus. Das gibt Erdoğan Macht. Und der eigentliche Konflikt steht erst noch bevor. In Nordsyrien kämpfen türkische und Türkei-nahe Streitkräfte und PKK-Truppen immer öfter gegeneinander. Die Türken können keine PKK-Kontrolle über nordsyrisches Territorium dulden.
Und wollen dafür den deutschen Segen?
Zumindest so wenig Kritik wie möglich. Die wird aber kommen, wenn Kurden und kritische Türken auch in Deutschland lautstark gegen diese türkische Intervention demonstrieren.