Eine aktuelle Übersicht über die Ereignisse finden Sie hier.
Bei einem Putschversuch von Streitkräften in der Türkei gegen Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hat es zahlreiche Tote und Verletzte gegeben. „Die Situation ist weitgehend unter Kontrolle“, sagte der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim am frühen Samstagmorgen. Die Lage ist derzeit noch unübersichtlich. Im Morgengrauen waren in Istanbul noch Schüsse und Explosionen zu hören. Nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu sind mindestens 90 Menschen getötet worden. Es gebe zudem 1154 Verletzte, meldete Anadolu am Samstag. Am Hauptquartier der Gendarmerie in Ankara starben nach Angaben aus Regierungskreisen 16 mutmaßliche Putschisten. Am frühen Morgen war zunächst von 60 Toten die Rede gewesen.
Nach Angaben eines hochrangigen türkischen Regierungsvertreters von Samstagmorgen sind 1563 Mitglieder der Armee im ganzen Land festgenommen worden. Fünf Generäle und 29 Oberste seien ihrer Posten enthoben worden. Der als Geisel genommene Generalstabschef Hulusi Akar ist am Morgen bei einem Militäreinsatz auf einem Luftwaffenstützpunkt bei Ankara befreit worden. Er sei an einen sicheren Ort gebracht worden, berichtet die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu. Der Sender CNN-Turk hatte berichtet, Akar sei in der Militärzentale in Ankara als Geisel genommen worden und mit einem Hubschrauber auf den Luftwaffenstützpunkt Akincilar gebracht worden. Akar werde nun wieder den Oberbefehl gegen die Verschwörer übernehmen.
Erdogan sagte, bei den Putschisten handele es sich um eine Minderheit in den Streitkräften. „Wir haben mit der Operation begonnen, das Militär vollständig zu säubern. Und wir werden diese Operation weiterführen.“
Der türkische Geheimdienst wurde während des Putschversuchs in der Nacht ebenfalls angegriffen, sagte ein Vertreter des Geheimdienstes. Dabei wurden von Militärhubschraubern Schüsse abgegeben. Zudem stand der Geheimdienst unter Beschuss aus Maschinengewehren. Drei Menschen seien verletzt worden. Der Chef des Geheimdienstes, Hakan Fidan, sei an einem sicheren Ort gewesen und habe konstant Kontakt zu Präsident Erdogan und Ministerpräsident Yildirim gehalten.
Am späten Freitagabend begannen türkische Streitkräfte mit einem Putschversuch gegen Erdogan, wie das Militär nach Angaben der privaten Nachrichtenagentur DHA mitteilte. Damit sollten unter anderem die verfassungsmäßige Ordnung, die Demokratie und die Menschenrechte wiederhergestellt werden. Zunächst hieß es, die Streitkräfte hätten die Macht in der Türkei übernommen.
Erdogan ruft bei CNN Türk an
Aus dem Präsidialamt wurde dies bestritten. Erdogan sei nicht abgesetzt. „Das ist ein Angriff gegen die türkische Demokratie. Eine Gruppe innerhalb der Streitkräfte hat außerhalb der Kommandostruktur einen Versuch unternommen, die demokratisch gewählte Regierung zu stürzen.“ Erdogan rief in einem live übertragenen Telefonanruf beim Sender CNN Türk das Volk zu öffentlichen Versammlungen gegen die Putschisten auf.
Ministerpräsident Yildirim wies das Militär nach Angaben aus dem Präsidialamt an, von den Putschisten gekaperte Flugzeuge abzuschießen. Kampfflugzeuge mit einem entsprechenden Auftrag seien von der Luftwaffenbasis Eskisehir abgehoben. Yildirim bestellte alle Parteien für Samstagnachmittag zu einer Sondersitzung ins Parlament ein, wie Lokalmedien berichteten.
Erdogan macht Gülen-Bewegung verantwortlich
Erdogan machte die Bewegung des im US-Exil lebenden Predigers Fethullah Gülen für den Putschversuch verantwortlich. „Sie werden einen sehr hohen Preis für diesen Verrat zahlen“, sagte Erdogan am Samstagmorgen am Atatürk-Flughafen in Istanbul.
Gülen ist ein einstiger Verbündeter Erdogans. Beide haben sich aber 2013 überworfen. Gülens Bewegung bestritt jede Beteiligung. Gülen, der in der Türkei inzwischen als Terrorist gilt, verurteilte den Putschversuch auf das Schärfste. Eine Regierung müsse durch freie und faire Wahlen an die Macht kommen, nicht durch Gewalt, hieß es in einer Mitteilung.
Das ist die Gülen-Bewegung
Der heute 75-jährige Prediger Fethullah Gülen hat sich ursprünglich als einflussreicher islamischer Prediger einen Namen gemacht. Bis in die Achtzigerjahre hinein wirkte er als Iman in verschiedenen türkischen Städten. Mit seinen Predigten und Büchern über den Islam, über Bildungs- und Wissenschaftsfragen soziale Gerechtigkeit und interreligiösen Dialog begeisterte Gülen viele Gläubige. Seit 1999 lebt der gesundheitlich angeschlagene Prediger im US-Staat Pennsylvania. Er war nach einer Anklage wegen staatsgefährdender Umtriebe emigriert.
Gülen steht hinter der Bewegung Hizmet („Dienst“). Hizmet sieht einen ihrer Schwerpunkte in der Verbesserung von Bildungschancen.
Für die meisten innenpolitischen Krisen macht Präsident Recep Tayyip Erdogan seit längerem die mächtige Bewegung Gülens mitverantwortlich. Erdogan wirft seinem einstigen Verbündeten vor, einen Staat im Staate errichten zu wollen und seinen Sturz zu betreiben. Die Regierung geht massiv gegen mutmaßliche Gülen-Anhänger vor, die sie vor allem bei der Polizei und in der Justiz vermutet. Die Gülen-Bewegung wurde zur Terrrororganisation erklärt, viele ihrer führende Köpfe stehen auf einer Liste der meistgesuchten Terroristen der Türkei.
Erdogan sagte, er sei vor seinem Flug nach Istanbul in Marmaris an der türkischen Ägäis-Küste gewesen. Unmittelbar nach seiner Abreise hätten die Putschisten „diesen Ort leider genauso bombardiert“. Während des Putschversuchs hatte es aus dem Präsidialamt geheißen, Erdogan sei in der Türkei und in Sicherheit.
Nach einer zeitweisen Besetzung durch Putschisten nahm der Sender CNN Türk die Berichterstattung wieder auf. Soldaten waren in der Nacht zu Samstag in das Redaktionsgebäude in Istanbul eingedrungen und hatten die Mitarbeiter dazu gezwungen, den Sender zu verlassen.
Menschen strömten in Massen auf die Straße
Die türkische Armee sieht sich als Wächterin der weltlichen Verfassung des Landes und hatte in den vergangenen Jahrzehnten wiederholt gegen die Zivilregierung geputscht.
In Istanbul waren in der Nacht Schüsse in den Straßen zu hören. Kampfjets flogen im Tiefflug über die Stadt. Gegen 02.40 Uhr Ortszeit (01.40 MESZ) wurde Istanbul von einer schweren Explosion erschüttert.
Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu meldete, bei einem Luftangriff der Putschisten auf das Hauptquartier der Spezialkräfte der Polizei in Ankara seien 17 Polizisten getötet worden. Außerdem sei ein Hubschrauber der Putschisten in Ankara von F-16-Kampfflugzeugen abgeschossen worden.
Die Nachrichtenagentur DHA berichtete, in Istanbul seien sechs Zivilisten durch Schüsse getötet und fast hundert verletzt worden. Die Toten und Verletzten seien in ein Krankenhaus auf der asiatischen Seite der Stadt eingeliefert worden. Der Sender NTV berichtete, 13 Soldaten seien bei dem Versuch festgenommen worden, ins Präsidialbüro in Ankara einzudringen.
Im Istanbuler Stadtteil Tophane waren Dutzende Gegner des Putsches auf die Straße gegangen. Ein dpa-Reporter berichtete am frühen Samstagmorgen, die Menge habe unter anderem „Gott ist groß“ und „Nein zum Putsch“ gerufen. Der US-Fernsehsender CNN International und die britische BBC zeigten Live-Bilder aus der Stadt: Menschen strömten in Massen auf die Straße und schwenkten türkische Fahnen.
Panzer rollen durch Ankara
In Ankara kam es einem Bericht des Senders CNN Türk zufolge zu Gefechten zwischen Polizei und Militär. Die Armee habe die Polizeidirektion beschossen, hieß es. Augenzeugen berichteten von Panzern in den Straßen der Hauptstadt.
Einem Medienbericht zufolge hatten Streitkräfte außerdem den Flugverkehr am Atatürk-Flughafen in Istanbul zwischenzeitlich gestoppt. Soldaten hätten den Tower am größten Flughafen des Landes am Freitagabend unter ihre Kontrolle gebracht, hatte die Nachrichtenagentur DHA gemeldet. Nach Erdogans Aufruf drangen Demonstranten in das Flughafengelände ein. Das Militär sei daraufhin wieder abgezogen.
US-Präsident Barack Obama rief dazu auf, die demokratisch gewählte Regierung des Landes zu unterstützen. Gewalt und Blutvergießen müssten vermieden werden, hieß es in einer Mitteilung des Weißen Hauses. Ähnlich äußerte sich die Europäische Union. Die EU verlangte eine „schnelle Rückkehr“ zur verfassungsmäßigen Ordnung, wie es am Rande des Asien-Europa-Gipfels in Ulan Bator in einer gemeinsamen Erklärung von EU-Ratspräsident Donald Tusk, EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini hieß. „Die Türkei ist ein wichtiger Partner der EU.“ Auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg rief zu Zurückhaltung und Respekt vor den demokratischen Institutionen und der türkischen Verfassung auf.
Mehrere Fluggesellschaften strichen Türkei-Flüge. Die Lufthansa, Eurowings und Air Berlin sagten in der Nacht Flüge aus dem Land und in das Land hinein ab. „Wir werden bis morgen Mittag 12 Uhr alle Verbindungen von und in die Türkei streichen“, sagte ein Lufthansa-Sprecher. „Danach werden wir sehen, wie sich die Lage weiterentwickelt.“
In den türkischen Ferienzentren war die Lage nach Angaben der Tui ruhig. Der Reiseveranstalter Thomas Cook forderte die Urlauber auf, „vorsichtshalber bis auf weiteres in ihren Hotels zu bleiben“.