




Die Türkei und die EU suchen in der Flüchtlingskrise nach Lösungen. Am Montag reist der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan nach Brüssel zu Gesprächen mit EU-Spitzenpolitikern. „Dabei steht natürlich die Flüchtlingspolitik ganz stark im Mittelpunkt, aber auch die Sicherheitslage an den Grenzen der Türkei, insbesondere natürlich in Syrien“, sagte EU-Parlamentspräsident Martin Schulz, der von einem „bedeutenden Besuch“ sprach. Der türkische Staatspräsident trifft zudem EU-Ratspräsident Donald Tusk und EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker.
Das Verhältnis zwischen der Europäischen Union und der Türkei ist nicht ungetrübt, in vielen Punkten gibt es Streit. So fordert die Türkei die versprochene Visa-Liberalisierung schneller ein, allerdings erfüllt das Land nach Ansicht der EU-Kommission noch nicht die Voraussetzungen dafür. „Es gibt Maßstäbe, die erst einmal erfüllt werden müssen“, sagte eine Kommissionssprecherin.
Die EU-Staaten wollen Flüchtlinge aus Drittländern ohne Bleiberecht in die Türkei zurückschicken können. Dafür könnte etwa das Rückführungsabkommen mit der Türkei vorgezogen werden. Umstritten ist zwischen den EU-Staaten noch, ob die Türkei auf die geplante EU-Liste von sicheren Herkunftsstaaten gesetzt werden soll, in die man Migranten zurückschicken kann. Über diese Liste beraten die EU-Innenminister am 8. Oktober.
Einige Staaten sehen kritisch, dass die Türkei gegen die kurdische Arbeiterpartei PKK vorgeht. Die Befürchtung lautet, dass Ankara den Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) gegen die Kurden missbrauchen könnte. Befürworter wie Schulz argumentieren dagegen: „Grundsätzlich ist es so, dass ein Land, das ein Beitrittskandidat zur Europäischen Union ist, ein sichereres Drittland sein muss.“
Wissenswertes über die Türkei
In der Türkei leben rund 77 Millionen Einwohner. Das Bevölkerungswachstum beträgt 1,1 Prozent. 82 Prozent der türkischen Bevölkerung ist jünger als 54.
Das nominale BIP beträgt 767,1 Milliarden US-Dollar. Bis 2015 wird es auf 820,09 Milliarden ansteigen, prognostizieren Analysten. Zum Vergleich: Das deutsche BIP betrug 2013 3,51 Billionen US-Dollar. Die stärksten Wirtschaftszweige der Türkei sind das verarbeitende Gewerbe, Verkehr und Nachrichtenübermittlung, Handel und Land- und Forstwirtschaft, die jeweils rund ein Zehntel zur BIP-Entstehung beitragen.
Die Türkei konnte in den letzten zehn Jahren (2004 bis 2013) mit einem durchschnittlichen Wirtschaftswachstum von unglaublich 4,9 Prozent aufwarten. Die Türkei musste nach der Finanzkrise 2009 eine starke Rezession hinnehmen: Die Wirtschaft schrumpfte um 4,83 Prozent. Nachdem sie in den beiden Folgejahren jeweils um die neun Prozent wuchs, war das Wachstum zuletzt eher enttäuschend. 2012 wuchs sie nur um 2,17 Prozent.
Die Staatsverschuldung der Türkei beträgt 36,4 Prozent des BIP.
Die Inflationsrate liegt 2014 bei 7,8 Prozent. Im folgenden Jahr soll sie Prognosen zufolge auf 6,5 Prozent fallen.
2013 lag die Arbeitslosenquote bei 9,7 Prozent. Bis 2015 soll sie auf 10,6 Prozent ansteigen.
2011 lag der monatliche Durchschnittslohn bei rund 700 Euro – bis 2013 stieg er auf rund 900 Euro an.
Bei den Gesprächen wird es auch ums Geld gehen. Die EU will die Türkei, die besonders viele Flüchtlinge aus dem Bürgerkriegsland Syrien aufgenommen hat, finanziell unterstützen. Der EU-Gipfel hat in der vergangenen Woche beschlossen, dass die Türkei bis zum nächsten Jahr eine Milliarde Euro für die Flüchtlingslager bekommen soll. Ob die Türkei dieses Geld und die damit verbundenen Bedingungen akzeptiert, soll laut EU-Kommission am Montag besprochen werden. Ankara muss dem zustimmen, bislang gab es noch keine definitive Antwort.
Übersicht der Kritik an Erdogan
2008 steht Erdogans islamisch-konservative Regierungspartei AKP mit der Opposition im Konflikt um die geltende Trennung von Staat und Religion. Das Parlament kippt auf Initiative der AKP per Verfassungsänderung das Kopftuchverbot an Hochschulen. Daraufhin eröffnet das Verfassungsgericht ein Verbotsverfahren gegen die AKP. Eine Million Menschen demonstrieren in Izmir für eine laizistische Türkei. Das Gericht kippt schließlich die Entscheidung des Parlaments zur Aufhebung des Kopftuchverbots. Das Verbotsverfahren gegen die AKP scheitert 2010 aber knapp an der Stimme eines Richters.
Ein ultranationalistischer Geheimbund namens „Ergenekon“ soll versucht haben, die islamisch-konservative Regierung zu stürzen. Viele der mehr als 270 Beschuldigten müssen für Jahrzehnte ins Gefängnis - darunter Militärs, Politiker und Journalisten. Der frühere Armeechef Ilker Basbug wird im August 2013 zu lebenslanger Haft verurteilt.
Die Protestbewegung gegen die Erdogan-Regierung dauert 2013 wochenlang an. Im Mai räumen Polizisten mit einem brutalen Einsatz ein Protestlager im Istanbuler Gezi-Park. Es folgen weitere Proteste in mehreren Städten - vor allem gegen den autoritären Regierungsstil des Ministerpräsidenten. Mehrere Menschen kommen ums Leben, Hunderte werden verletzt.
Die Türkei wird seit Mitte Dezember 2013 von einem Korruptionsskandal erschüttert. Die Ermittlungen erstreckten sich auch auf die Familien mehrerer Minister. Erdogan sieht eine Kampagne gegen seine Politik und reagiert mit einer „Säuberungswelle“ in Polizei und Justiz, bei der Hunderte Beamte zwangsversetzt werden. Die AKP setzt zudem eine Gesetzesänderung durch, die dem Justizminister mehr Macht geben soll. Das Verfassungsgericht annulliert allerdings im April 2014 teilweise Erdogans Justizreform.
Das Parlament nimmt im Februar 2014 einen Gesetzentwurf der Regierung für eine verschärfte Internetkontrolle an. Demnach dürfen Behörden Seiten auch ohne richterlichen Beschluss sperren. Erdogans Zorn auf soziale Netzwerke hat sich an auf YouTube veröffentlichten Telefonmitschnitten entzündet. Darin war angeblich zu hören, wie er seinen Sohn auffordert, große Geldsummen vor Korruptionsermittlern in Sicherheit zu bringen. Im März wird der Zugang zum Kurznachrichtendienst Twitter gesperrt, das Verfassungsgericht hebt die Regierungsentscheidung aber wieder auf.
Kein Land hat mehr Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen als die Türkei. Es fanden mehr als zwei Millionen Syrer und auch 200.000 Iraker in der Türkei Zuflucht. Ein EU-Kommissionssprecher sagte: „Die Türkei hat eine entscheidende Rolle in der derzeitigen Krise.“ Das Treffen solle auch dazu dienen, Vertrauen zu schaffen.
Thema wird auch die Grenzsicherung zwischen der Türkei und den EU-Staaten Griechenland und Bulgarien sein. Die EU ist daran interessiert, dass die Türkei diese Grenzen besser absichert und Flüchtlinge integriert, damit sie gar nicht erst weiter nach Europa reisen. Schulz kündigte an, auch über die Pressefreiheit und die innenpolitische Lage in der Türkei mit Erdogan zu reden.