Türkeiwahlen Türkischer Wahlkrimi geht in die zweite Runde

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan und seine Frau Emine winken zu Anhängern in der Parteizentrale in Ankara, Türkei. Quelle: dpa

Weder Präsident Erdogan noch seinem Herausforderer Kılıçdaroğlu ist es gelungen, die absolute Mehrheit zu holen. Das Rennen ums Präsidentenamt geht in eine zweite Runde. Die Wechselstimmung in der türkischen Bevölkerung war noch nie so groß.

  • Teilen per:
  • Teilen per:

Dass es knapp werden würde, hatten viele vermutet. Am Montagmittag steht fest: keiner der beiden Kandidaten bekam die absolute Mehrheit. Zwar Erdogan liegt demnach zwar mit 49,5 Prozent der Stimmen in Führung, erreicht aber nicht die erforderliche absolute Mehrheit. Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu kommt demnach auf 44,9 Prozent.

Damit geht der türkische Wahlkrimi in die nächste Runde – in 14 Tagen findet die Stichwahl statt. 60 Millionen Wahlberechtigte waren aufgerufen, ihre Stimme bei dieser Schicksalswahl abzugeben – und vielleicht nach 20 Jahren einen grundlegenden Wechsel in der türkischen Politik herbeizuführen.

Das Ende des Wahlkampfs hätte Erdogan symbolträchtiger nicht wählen können: Zusammen mit Tausenden von Gläubigen begab er sich am Samstagabend zum Gebet in die Aya Sofya. Das Gebäude, eines der Wahrzeichen Istanbuls, steht wie kein anderes für die Wechselhaftigkeit der türkischen Geschichte. Die einst vom oströmischen Kaiser Justinian im 5. Jahrhundert erbaute „Hagia Sofia“ war bis zur Eroberung der Stadt durch die Osmanen 1453 das größte Gebäude der Christenheit. Knapp 500 Jahre blieb sie eine Moschee, bis sie Staatsgründer Kemal Atatürk 1935 in ein Museum umwandelte. 2020 gab Erdogan dem Druck ultrakonservativer Kreise nach und machte daraus abermals eine Moschee. Mit dem Abendgebet in der Aya Sofya beschwor Erdoğan nochmals jene Wählerkreise, die sich kaum um weltliche Belange scheren. Selbst wirtschaftliche Not tritt in den Hintergrund für diese Bevölkerungsgruppe.

Denn während die säkulare Hälfte des Landes die Bilanz von 20 Jahren für vernichtend hält, haben die klassischen AKP-Wähler aus Anatolien darauf eine andere Perspektive: Als Erdogan 2003 an die Macht kam, lebten 37 Prozent der Türken unterhalb der Armutsgrenze. 2018, in dem Jahr, als Erdogan das Präsidialsystem einführte und seine eigenen Machtbefugnisse ausweitete, war dieser Anteil auf acht Prozent gesunken.

Symbolträchtig und richtungsweisend ist die Wahl ohnehin: Sie hat mit dem 14. Mai an einem historisch aufgeladenen Datum stattgefunden. An diesem Tag vor 73 Jahren hatte Adnan Menderes, ein konservativer Politiker, die ersten freien Wahlen des Landes gewonnen. Menderes wurde 1960 von säkularen Militärs zum Tod durch Erhängen verurteilt und wurde damit zum Märtyrer der religiösen Bevölkerungsmehrheit.

Erdogan hatte sich in den vergangenen Tagen zunehmend unlauterer Methoden bedient. So hatte er seinen Herausforderer, den 74-jährigen Kılıçdaroğlu, grundlos als „Säufer“ bezeichnet. Angeblich hatte die Regierung bei Twitter auf die Sperrung von Oppositionsaccounts gedrängt. Dabei sind die wichtigsten Medien, allen voran die Fernsehsender, ohnehin in Regierungshänden.

Trotzdem – die Wechselstimmung in der türkischen Bevölkerung war noch nie so groß wie jetzt. Mit dazu bei trägt auch die späte und schlechte Reaktion der Regierung auf das verheerende Erdbeben, das im Februar dieses Jahres den Osten der Türkei heimgesucht hat und mehr als 50.000 Todesopfer forderte. Horrende Preissteigerungen von bis zu 80 Prozent und ein Absturz der Lira haben auch bei eingefleischten Erdogan-Fans Fragen aufkommen lassen, ob der Mann aus dem Arbeiterviertel Kasimpasa in Istanbul nicht vielleicht doch seinen Zenit überschritten hat.

Kemal Kılıçdaroğlu von der größten Oppositionspartei CHP führt ein Sechs-Parteienbündnis an. Seine Chancen waren vor wenigen Tagen nochmals angestiegen, als ein weiterer Anwärter, Muharrem Ince, seine Kandidatur zugunsten von Kılıçdaroğlu zurückgezogen hatte.

Einfach aber wird die Aufgabe auch nicht für die Opposition werden, sollte sie siegen. Das größte Problem ist nach wie vor die grassierende Inflation. Die Preissteigerungen liegen aktuell bei rund 50 Prozent im Jahr. Am stärksten betroffen sind die urbanen Zentren, allen voran Istanbul: Die Preise dort liegen im Schnitt nochmals 40 Prozent über dem Landesdurchschnitt.

Schuld daran ist – nicht nur, aber auch – die desaströse Wirtschaftspolitik der Regierung, die kein langfristiges Ziel im Auge hatte, sondern stets nur von Wahl zu Wahl agierte. Das hieß konkret, dass man seit Jahren die Konjunktur anstatt der Geldwertstabilität priorisierte. „Seit 2018, als die Türkei ein Präsidial-System einführte, drehte sich bei der Erdoganomics alles um Taktik und nicht um Strategie“, schrieb Güven Sak, Direktor des Economic Policy Research Foundation of Turkey (TEPAV) und einer der renommiertesten Ökonomen des Landes, kürzlich. Sak lobt außerdem das Wirtschaftsteam um Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu, welches ein 240 Seiten langes Memorandum zu wirtschaftlichen Reformen veröffentlicht hatte.



Vieles dreht sich um die Frage, ob es der Türkei gelingen kann, ohne Hilfe des Internationalen Währungsfonds (IWF) die Finanzen zu stabilisieren. Die Opposition hat bessere Chancen hierauf: Ein Regierungswechsel dürfte die Westbindung des Staates stärken und damit das Land für internationale Investoren attraktiver machen. Nach wie vor gehen 50 Prozent der Exporte des Landes in die EU, und das Land ist prinzipiell aufgrund seiner demografischen Struktur und des Lohnniveaus bei internationalen Unternehmen attraktiv.

Erdogans Politik und Beschädigung der Rechtsstaatlichkeit hat viele dieser Investoren verschreckt. Ohne Hilfe des IWF, meinen viele Experten, dürften die Finanzen des Landes kaum zu stabilisieren sein. Eine solche Hilfe wiederum lehnt Erdogan strikt ab.

Eine andere Frage ist, wie stabil das Sechs-Parteien-Bündnis der Opposition in der fragmentierten Politik-Landschaft sein wird. Kılıçdaroğlu hat angekündigt, das Präsidialsystem wieder abzuschaffen und zur parlamentarischen Demokratie zurückzukehren. Es wäre ein in der Geschichte seltener Akt der eigenen Machtbeschränkung.

Angespannt ist die Lage auch für die Millionen Flüchtlinge im Land: Bis zu vier Millionen syrische Bürgerkriegsflüchtlinge leben in der Türkei. Dass sie anfangs willkommen geheißen wurden, lag sowohl an der Offenheit der türkischen Bevölkerung gegenüber Migranten als auch an der Politik Erdogans. Der versprach sich von einer Einbürgerung neue Stammwähler. In den säkularen und nationalistischen Kreisen war die Stimmung von jeher migrationskritisch: Gerade Anhänger der CHP und MHP fürchteten, dass konservativ-religiöse Elemente in der Gesellschaft gestärkt werden. Durch die Wirtschaftskrise aber ist auch unter den Erdogan-Wählern die Stimmung fremdenfeindlicher geworden. Immer häufiger war es in den vergangenen Monaten zu Ausschreitungen gekommen.

Werkzeughersteller Russland enteignet Maschinenbauer DMG Mori

Weil die Bundesregierung eine Investitionsgarantie gab, fordert der Konzern jetzt Schadensersatz. Der Vorfall in Russland ist aber nicht das einzige Thema, das am Standort in Bielefeld derzeit für Wirbel sorgt.

Gehalt „Wer pfiffige Ideen hat und hart arbeitet, sollte dafür auch belohnt werden“

In Unternehmen herrscht ein verqueres Leistungsdenken, sagt Interimsmanager Ulvi Aydin. Er fordert, High Performern mehr zu zahlen als den Chefs: „Es gibt Leute, die mehr leisten als andere – das sollte man anerkennen.“

Aktien Fünf gefallene Börsenstars mit der Hoffnung auf ein Comeback

Mehrere frühere Börsenlieblinge sind jetzt günstig zu haben. Ihre Kursschwäche hat Gründe – aber es gibt gute Argumente für eine Erholung. Fünf Turnaround-Ideen für Mutige.

 Weitere Plus-Artikel lesen Sie hier

Alle sechs Parteien des Oppositions-Bündnisses wollen deswegen eine Rückführung der syrischen Flüchtlinge. Meral Aksener von der Iyi-Partei fordert sogar einen konkreten Fahrplan: Bis zum 1. September 2026 sollen alle Syrer das Land verlassen haben. Einigkeit herrscht auch darin, dass das gesamte Flüchtlingsabkommen mit der EU neu verhandelt werden müsse, und die Türkei dabei härter auftreten solle. Das Flüchtlingsabkommen aus dem Jahr 2016 sieht vor, dass die Türkei die illegale Ausreise nach Griechenland unterbindet, und für jeden aus Griechenland in die Türkei abgeschobenen Flüchtling eine andere Person legal in der EU angesiedelt werden darf. Dafür zahlte die EU mehrere Milliarden an die Türkei, und vereinbarte den Ausbau der Zollunion sowie eine Visa-Liberalisierung für türkische Staatsbürger.

Lesen Sie auch: Warum der Westen die Türkei falsch versteht

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%