Die EU sorgt sich derzeit eher um die Annäherung zwischen der Türkei und Russland. Ist Russland eine Alternative zur EU?
Wir wollen gute Beziehungen zu beiden Partnern - zum Wohle der Region. Die Türkei ist kein Land in einer normalen geographischen Lage. Wir liegen zwischen den Welten, und brauchen daher multilaterale Beziehungen. Wir haben mit einer äußerst komplizierten Lage in Syrien und dem Irak zu tun. Wann immer wir gute Beziehungen zu anderen Nachbarn haben, beschwert sich die EU, die Türkei würde den Westen verlassen.
Wie sicher ist das Flüchtlingsabkommen noch?
Wir stehen zu den Vereinbarungen vom 18. März. Dank der Aufnahmekapazität der türkischen Institutionen war Rückführungsabkommen sehr erfolgreich. Die täglichen Grenzübertritte fielen von 7000 im vergangenen Jahr auf unter 100. Ohne das Abkommen stünde Europa vor einer weiteren Flüchtlingskatastrophe. Zudem hat das Abkommen die Demokratien in Europa geschützt, da es den Aufstieg rechter Partien verhinderte.
Was passiert, wenn die syrische Stadt Aleppo fällt und sich 300.000 Menschen auf den Weg machen?
Dann stünden wir vor einer Krise, die weitaus größer wäre als die heutige.
Das ist die Gülen-Bewegung
Der heute 75-jährige Prediger Fethullah Gülen hat sich ursprünglich als einflussreicher islamischer Prediger einen Namen gemacht. Bis in die Achtzigerjahre hinein wirkte er als Iman in verschiedenen türkischen Städten. Mit seinen Predigten und Büchern über den Islam, über Bildungs- und Wissenschaftsfragen soziale Gerechtigkeit und interreligiösen Dialog begeisterte Gülen viele Gläubige. Seit 1999 lebt der gesundheitlich angeschlagene Prediger im US-Staat Pennsylvania. Er war nach einer Anklage wegen staatsgefährdender Umtriebe emigriert.
Gülen steht hinter der Bewegung Hizmet („Dienst“). Hizmet sieht einen ihrer Schwerpunkte in der Verbesserung von Bildungschancen.
Für die meisten innenpolitischen Krisen macht Präsident Recep Tayyip Erdogan seit längerem die mächtige Bewegung Gülens mitverantwortlich. Erdogan wirft seinem einstigen Verbündeten vor, einen Staat im Staate errichten zu wollen und seinen Sturz zu betreiben. Die Regierung geht massiv gegen mutmaßliche Gülen-Anhänger vor, die sie vor allem bei der Polizei und in der Justiz vermutet. Die Gülen-Bewegung wurde zur Terrrororganisation erklärt, viele ihrer führende Köpfe stehen auf einer Liste der meistgesuchten Terroristen der Türkei.
Wird das Abkommen in diesem Fall noch funktionieren?
Die vereinbarten Mechanismen werden dann nicht mehr ausreichen.
Wollen Sie dann mehr Geld von der EU?
Wir haben bis heute 20 Milliarden Dollar für Flüchtlinge ausgegeben. Von den versprochenen drei Milliarden Euro, die die EU versprochen hat, haben wir nur 106 Millionen erhalten. Das ist absolut nicht ausreichend. Doch nicht der Betrag selbst ist wichtig, sondern die Einhaltung von Versprechen. Wir aber hören nur negative Kritik, besonders von Österreich. Unsere Bürger fragen: Warum tragen wie die Lasten der EU und müssen uns das anhören? Kommt die Visa-Freiheit nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt, müssen wir das Abkommen aufkündigen.
Wann ist Ihre Deadline?
Sie war bereits im Juni.
Wie lange wollen Sie noch warten?
Nicht mehr lange. Von jetzt an fällt unsere Antwort negativ aus, wenn es darum geht, einen neuen Mechanismus zu installieren. Und das Resultat dann wird eine neue Migrationswelle sein.
Und das geschieht, wenn Aleppo fällt, das gerade von Russland bombardiert wird?
Das ist nur ein Beispiel. Es gibt auch im Irak Krisen. Migranten kommen von überall her. Deshalb brauchen wir Mechanismen zwischen Europa und der Türkei. Österreich will die Grenzen mit NATO-Soldaten schützen - doch niemand kann Grenzen schützen vor Menschen, die dem Tod entkommen wollen.
Die Türkei hätte längst die Visa-Freiheit, wenn sie ihre Anti-Terror-Gesetze angepasst hätte.
Jede Anpassung unserer Gesetze, die den Kampf gegen den Terrorismus schwächt, schadet auch der Sicherheit Europas.
Schlüsselstaat Türkei
Die Republik Türkei ist laut der Verfassung von 1982 ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat. Regiert wird das Land von Ministerpräsident Binali Yildirim und dem Kabinett. Staatsoberhaupt ist Recep Tayyip Erdogan, als erster Präsident wurde er 2014 direkt vom Volk gewählt. Im türkischen Parlament sind vier Parteien vertreten, darunter - mit absoluter Mehrheit - die islamisch-konservative AKP von Erdogan. Parteien müssen bei Wahlen mindestens 10 Prozent der Stimmen auf sich vereinen, um ins Parlament einziehen zu können. Die Türkei ist zentralistisch organisiert, der Regierungssitz ist Ankara. (dpa)
Die Türkei ist seit 1999 Kandidat für einen EU-Beitritt, seit 2005 wird darüber konkret verhandelt. Würde die Türkei beitreten, wäre sie zwar der ärmste, aber nach Einwohnern der zweitgrößte Mitgliedstaat, bei derzeitigem Wachstum in einigen Jahren wohl der größte.
Als Nachbarstaat von Griechenland und Bulgarien auf der einen Seite und Syrien sowie dem Irak auf der anderen Seite bildet die Türkei eine Brücke zwischen der EU-Außengrenze und den Konfliktgebieten des Nahen und Mittleren Ostens.
Seit Beginn des Syrien-Konflikts ist die Türkei als Nachbarstaat direkt involviert. Rund 2,7 Millionen syrische Flüchtlinge nahm das Land nach eigenen Angaben auf. Die türkische Luftwaffe bombardiert allerdings auch kurdische Stellungen in Syrien und heizt so den Kurdenkonflikt weiter an.
1952 trat die Türkei der Nato bei. Das türkische Militär - mit etwa 640 000 Soldaten und zivilen Mitarbeitern ohnehin eines der größten der Welt - wird bis heute durch Truppen weiterer Nato-Partner im Land verstärkt. Im Rahmen der sogenannten nuklearen Teilhabe sollen auch Atombomben auf dem Militärstützpunkt Incirlik stationiert sein.
Warum hat die Türkei denn dann das Abkommen unterzeichnet?
Seitdem haben sich die Umstände und der Terrorismus verändert. Wir sagen: Sobald sich die Situation verbessert hat, können wir bilateral mit der EU über eine Anpassung reden.
Sie möchten also mehr Zeit?
Wir können einen Konsens erreichen, wenn sich die Umstände geändert haben.