Ukraine „Wir gehen pünktlich zur Arbeit, weil jeder Brot benötigt“

Ein Mann steht am 15. März 2022 mit seinem Einkauf vor einem durch das russische Militär zerstörten Gebäuden in Kiew. Quelle: Getty Images

In weiten Teilen der Ukraine gewöhnen sich Unternehmen und Menschen an die Dauerangriffe. Es ist nun an der West-Ukraine, die Wirtschaft des Landes zu stützen. Von dort berichtet die ukrainische Journalistin Yuliana Skibitska. Sie beschreibt die Suche nach Normalität, Maßnahmen gegen Panik – und ungewöhnliche Transfers an Senioren.

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Iwano-Frankiwsk ist eine kleine Stadt im Westen der Ukraine, und die Unterschiede zu einem Leben in Frieden lassen sich oft erst auf den zweiten Blick erkennen. Stefania, eine selbstständige Maniküristin, erzählt, wie zwei ihrer Geschäftspartner in europäische Nachbarländer geflohen seien. Stefania habe sich entschieden, zu bleiben – und ihr Geschäft weiterzuführen. Die Preise für ihre Dienstleistung habe sie unverändert gelassen. Eine komplette Handpflege kostet 400 Hrywnja, umgerechnet etwas mehr als zwölf Euro.

Stefania lebt in der Nähe des Flughafens von Iwano-Frankiwsk. Der Airport sei mehrere Male bombardiert worden. „Ich habe Angst“, sagt sie, aber sie könne „nirgendwo anders hingehen“ – und sie brauche den Job. „Ich habe vor einigen Tagen wieder angefangen, Kunden zu betreuen.“ Einige Stammkunden hätten die Gegend verlassen, sie wisse es nicht genau. „Aber neue Kunden sind zu mir gekommen, Flüchtlinge aus anderen Orten der Ukraine.“

Unternehmer in der Ukraine suchen nach vielen Tagen der Unsicherheit die Normalität – und starten ihre Geschäfte neu. Vor allem in der West-Ukraine sei die Wirtschaft wieder angelaufen. In Iwano-Frankiwsk, eine Stadt in der Nähe der polnischen und slowakischen Grenze, hätten sich während der Kriegstage rund 9000 Flüchtlinge niedergelassen. Wahrscheinlich liegt ihre Zahl sogar höher, nicht jeder lasse sich offiziell registrieren. Einige Geflüchtete seien aus der Gegend weiter in Richtung West-Europa geflohen.

Die Journalistin Yuliana Skibitska lebt im Westen der Ukraine und berichtet für die WirtschaftsWoche über die aktuelle Situation in ihrem Land. Quelle: Privat

Am 24. Februar hat Russland mit der Bombardierung auf die Ukraine begonnen. Seitdem stehen das Land und die meisten Städte unter Dauerbeschuss – vor allem im Osten und Norden der Ukraine wie etwa Mariupol, Charkiw, Tschernihiw, Sumy und Kiew. Der Beschuss erfolgt selbst hinter der Front, also in der West-Ukraine, in der inzwischen viele Flüchtlinge leben. Dabei kommt es nun vor allem auf die West-Ukraine an, die Wirtschaft des Landes zu stützen. Laut der ukrainischen Regierung leide das Land durch die Invasion der Russen unter einem wirtschaftlichen Einbruch von rund 120 Milliarden Euro – und die Summe dürfte wohl wachsen.

„Die negativen Konsequenzen des Kriegs werden immens sein“, sagt der ukrainische Finanzminister Serhiy Marchenke. In zehn Gebieten, die von Kriegshandlungen betroffen seien, werde die Hälfte des ukrainischen Bruttoinlandsprodukts produziert. Die wichtigsten Regionen seien Charkiw im Osten, die Hauptstadt Kiew und Mariupol am Asowschen Meer – ausgerechnet dort herrsche Dauerbeschuss oder drohe bald ein Einmarsch wie in Kiew.

Viele Logistikketten seien inzwischen unterbrochen, zahlreiche Unternehmen physisch zerstört oder könnten in Kriegszeiten keine Produkte mehr herstellen. Außerdem hätten viele Arbeiter ihre Heimat verlassen. Das Wirtschaftsministerium schätzt, dass die ökonomischen Verluste das Bruttoinlandsprodukt um ein Drittel bis zur Hälfte einbrechen lassen könnten – vielleicht auch mehr.

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Der ukrainische Ministerpräsident Denys Schmyhal hat die Bevölkerung dazu aufgerufen, die Arbeit wieder aufzunehmen, um die Wirtschaft zu unterstützen. „Ich fordere jeden auf, der kann und einen Job hat, zu arbeiten“, appellierte Schmyhal an die Einwohner des Landes.

von Malte Fischer, Julian Heißler, Bert Losse, Jörn Petring, Christian Ramthun

Die Lage im Land ist von Region zu Region sehr unterschiedlich. In Lwiw, einer Stadt an der Grenze zu Polen, wo laut Behörden rund 200.000 Flüchtlinge angekommen sind, gebe es allenfalls eine kleine Knappheit bei einzelnen Produkten. „Große Supermärkte verkaufen weiterhin Fleisch, Fisch und einige Gemüsesorten – das meiste wird importiert“, sagt Polina Vernigor, die ursprünglich aus Kiew kommt und nun in der Region um Lwiw lebt. „Nur Pasta gibt es derzeit nicht. Auch Mehl ist aus. Immerhin gibt es Zucker und Cerealien.“

Mietpreise steigen rasant

Die Wirtschaft läuft so gut, wie es geht. Das einzige Problem im Westen der Ukraine sei derzeit der Wohnungsmangel. Einige Vermieter versuchen Profit aus der Lage zu schlagen und haben die Mieten erhöht. In der Stadt Iwano-Frankiwsk kostet ein Ein-Zimmer-Appartement aktuell umgerechnet 450 Euro pro Monat. In Friedenszeiten habe die Miete bei rund 180 Euro pro Monat gelegen. Andriy Sadovy, Bürgermeister der Stadt Lwiw, ließ bereits eine Hotline einrichten, um Wucherpreise bei Vermietungen zu melden.

In der Hauptstadt Kiew, die von russischen Truppen belagert wird, unterscheide sich die Nahrungsmittelsituation kaum vom weniger betroffenen Westen der Ukraine. In den ersten Tagen des Krieges gab es große Schlangen vor den Geschäften und eine große Knappheit an Produkten für das alltägliche Leben, etwa Brot. Inzwischen habe sich die Situation verbessert, berichten Leute vor Ort. Kiews Bürgermeister Vitaliy Klitschko habe versichert, dass die Behörden alles unternehmen würden, um die verbleibenden Bewohner der Stadt mit dem Nötigsten auszurüsten.

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