Unabhängigkeit? Die Schotten und der Brexit

In Schottland liegen die Befürworter für einen Austritt aus dem Vereinigten Königreich derzeit vorne. Quelle: dpa

Während Boris Johnson einen vermeintlich diplomatischen Brief an die EU schreibt, liegen in Schottland die Befürworter einer Unabhängigkeit ihres Landes vorne. Woran das Erstarken der schottischen Nationalisten liegt.

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Als Boris Johnson kürzlich Schottland besuchte, blieb er ganz bewusst nur kurz. Großbritanniens neuer Premier ließ sich auf einem Atom-U-Boot herumführen und schaute anschließend bei Schottlands Erster Ministerin Nicola Sturgeon vorbei. Öffentliche Orte mied er. Es half nichts: Als Sturgeon ihren Besucher vor ihrem Amtssitz in Edinburgh begrüßte, buhte eine Menschenmenge den britischen Premier aus. Nach dem Treffen verließ Johnson das Gebäude klammheimlich durch die Hintertür.

Nach Gründen dafür, warum Johnson bei den Schotten unbeliebt ist, muss man nicht lange suchen. So segnete er beispielsweise 2004 als Chefredakteur des konservativen Magazins Spectator die Veröffentlichung eines wohl satirisch gemeinten Gedichts ab, in dem der Autor die Schotten als „Ungeziefer“ bezeichnete, das man „umfassend vernichten“ müsse. Das haben ihm viele Schotten bis heute nicht verziehen. Doch auch ohne diese Kränkung würde sich die Zahl der Johnson-Fans in dem nördlichen Landesteil in Grenzen halten. Denn Johnson wird in Schottland geradezu als Paradebeispiel eines aufgeblasenen, großspurigen Oberschicht-Londoners wahrgenommen.

Doch nicht nur das: Viele Schotten geben Johnson eine Mitschuld am Brexit. Schließlich war der im Vorfeld des EU-Referendums das öffentliche Gesicht der Vote-Leave-Kampagne. Dabei lehnt eine dermaßen eindeutige Mehrheit der Schotten den Brexit ab, dass darüber das Vereinigte Königreich zerbrechen könnte.

Mit seinem aggressiven Kurs gegenüber Brüssel hat Johnson die Zahl der Unterstützer einer schottischen Unabhängigkeit in den vergangenen Wochen noch einmal in die Höhe getrieben. Bei dem Referendum über die schottische Unabhängigkeit vor fünf Jahren setzten sich noch die Befürworter des Status Quos mit 55,3 Prozent der Stimmen noch recht deutlich durch. In einer Umfrage vor wenigen Tagen lagen dagegen die Befürworter einer schottischen Unabhängigkeit bereits knapp vorne. Am vergangenen Wochenende marschierten tausende Unterstützer einer Loslösung vom Vereinigten Königreich durch Aberdeen im Nordosten Schottlands.

Der Meinungsumschwung hängt zweifellos mit dem Brexit zusammen. Denn anders als in England, wo beim EU-Referendum vor drei Jahren rund 53 Prozent der Wählerinnen und Wähler für einen Brexit gestimmt haben, sprachen sich in Schottland 62 Prozent der Schotten für einen Verbleib in der EU aus. Die schottisch-nationalistische Landesregierung in Edinburgh, die sich im Vorfeld des EU-Referendums stark für einen Verbleib in der EU ausgesprochen hat, forderte noch 2016, dass Schottland nach dem Brexit im Europäischen Binnenmarkt bleiben sollte und dass in der Region die Regeln der EU-Personenfreizügigkeit weiter gelten sollten. Die britische Regierung in London allerdings will im Falle eines Brexits ohne Abkommen am 31. Oktober die Freizügigkeit für Neuankömmlinge aus der EU unmittelbar beenden. Das teilte eine Regierungssprecherin noch am Montag in London mit. Die Rechte von EU-Bürgern, die bereits in Großbritannien leben, seien davon jedoch nicht betroffen.

Die schottische Landesregierung von Nicola Sturgeon forderte zudem noch eine Neuauflage des Unabhängigkeitsreferendums, da sich durch das Brexit-Votum die Grundvoraussetzungen geändert hätten. Die damalige Premierministerin Theresa May lehnte alle diese Forderungen vehement ab.

Schaut man genauer hin, zeigt sich jedoch schnell, dass sich die grundlegenden Einstellungen gegenüber der EU in England und in Schottland gar nicht so sehr voneinander unterscheiden. Ian Montagu vom Forschungsinstitut ScotCen in Edinburgh beschreibt in einem Artikel, wie in den drei Jahren vor dem EU-Referendum sowohl in England als auch in Schottland mehr als 50 Prozent der Menschen eine euroskeptische Einstellung hatten. In der hitzigen Zeit vor dem EU-Referendum stieg dieser Wert in England auf 76 Prozent an, in Schottland lag er bei immerhin noch 66 Prozent.

Auch nach dem Referendum seien die grundlegenden Einstellungen der Menschen in England und Schottland in wichtigen, die EU betreffenden Fragen kaum voreinander abgewichen, schreibt Montagu weiter. So hätten sich im Oktober 2017 90 Prozent der Schotten für einen Erhalt der freien Austauschs von Waren mit der EU ausgesprochen, in England seien es 88 Prozent gewesen. 59 Prozent der Schotten wünschten sich damals zugleich ein Ende der Personenfreizügigkeit, in England waren es 64 Prozent.

Doch wenn man Schotten fragt, was ihnen die EU-Mitgliedschaft bedeutet, dann antworten viele von ihnen, dass sie Brüssel immer ein Stück weit als Garanten der schottischen Regionalautonomie verstanden hätten. Oder anders gesagt: Jedes Mal, wenn Kompetenzen aus London nach Brüssel wanderten, sank damit Londons direkter Einfluss über Schottland. Der Brexit - und vor allem eine chaotische, ungeregelter Variante - dürfte zu einem hitzigen Streit zwischen Edinburgh und London führen. Denn was geschieht mit den Kompetenzen, die auf die britischen Inseln zurückkehren? Schnappt sich London alle diese Befugnisse, und somit auch jene, die vor allem die Regionen betreffen? Die Regierung von Theresa May vermittelte vielfach den Eindruck, dass das der Fall sein werde. Dass ausgerechnet in dieser hochsensiblen Zeit ein Mensch wie Boris Johnson in der Downing Street das Sagen hat, dürfte die Dinge kaum besser machen.

Gordon Brown fürchtet um die Zukunft der Union. Der ehemalige Labour-Chef und britische Premierminister, der aus Schottland stammt, hat mit seinem beherzten Einsatz vor dem Unabhängigkeitsreferendum 2014 dazu beigetragen, dass eine Mehrzahl der Schotten für einen Verbleib im Vereinigten Königreich gestimmt hat. Kürzlich warnte Brown jedoch, dass Boris Johnson „der letzte Premierminister“ Großbritannien sein könnte. Es sei ganz egal, was Johnson jetzt sage, erklärte Brown kürzlich. „Zwei Jahrzehnte anti-schottischer Schmähungen werden ihn jetzt jagen.“

Dabei kämen derzeit zwei Dinge zusammen, sagte Brown der Wochenzeitung „The Observer“: „Dass Boris Johnson als jemand angesehen wird, der feindselig gegenüber schottischen Aspirationen eingestellt ist und dass Schottland beim Referendum gegen den Brexit gestimmt hat.“ Die Frage der schottischen Unabhängigkeit sei dadurch ins Zentrum der politischen Debatten gerückt.

Er werde darum kämpfen, dass Schottland im Vereinigten Königreich bleibe, sagte Brown der Zeitung weiter. Und er werde „darum kämpfen, dass Großbritannien in der Europäischen Union bleibt und seine Verbindungen nach Europa aufrechterhält.“ Schottland solle „Großbritannien anführen anstatt es zu verlassen.“

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