
Das schottische Parlament in Edinburgh hat für eine erneute Volksabstimmung über die Unabhängigkeit von Großbritannien gestimmt. Mit einer Mehrheit von 69 zu 59 Stimmen erteilten die Abgeordneten am Dienstag der schottischen Regierungschefin Nicola Sturgeon das Mandat für Verhandlungen mit London. Sturgeon will ihre Landsleute zwischen Herbst 2018 und Frühjahr 2019 über die Loslösung von Großbritannien abstimmen lassen - also noch vor dem Brexit. Dafür braucht sie noch die Zustimmung aus London.
Beim Poker ist die Mimik der Mitspieler oft das wichtigste Indiz dafür, welche Karten sie auf der Hand haben. Als die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon Anfang März in einem BBC-Interview gefragt wurde, ob ihre Drohung mit einem erneuten Unabhängigkeitsreferendum ein Bluff sei, lächelte sie. Wenige Tage später kündigte sie mit einer Abstimmung im schottischen Parlament den ersten Schritt für das Referendum an.
Auch bei der Reaktion der britischen Premierministerin Theresa May darauf ließ sich einiges aus den Gesichtszügen ablesen. „Jetzt ist nicht die Zeit“, sagte May an die schottische Regierungspartei SNP (Schottische Nationalpartei) gerichtet. Ihr Gesichtsausdruck war gequält, die Mundwinkel nach unten gezogen. Die Sache schien ihr Unbehagen zu bereiten.
Der Brexit-Fahrplan
Laut Barnier sollen bis Oktober 2018 die Details für den Austritt Großbritanniens ausverhandelt sein. Der Franzose hat diesen Zeitplan bereits als sehr ambitioniert bezeichnet. Andere Experten halten ihn angesichts der Fülle der Problemfelder für unmöglich. Womöglich wird es deshalb zahlreiche Übergangsfristen von etwa zwei bis fünf Jahren geben.
Die schottische Regierung will im Herbst 2018 ein zweites Referendum über den Verbleib im Vereinigten Königreich abhalten, sobald die Bedingungen für den Brexit klar sind. May hat dies abgelehnt.
Bis März 2019 wäre dann Zeit, damit Mitgliedsländer und EU-Parlament die Vereinbarung ratifizieren. Der Tag des Austritts Großbritanniens aus der EU wäre dann Samstag, der 30. März.
Unklar ist, wann die umfassenderen Verhandlungen über die künftigen Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU abgeschlossen sind. May strebt ein Freihandelsabkommen mit der EU innerhalb weniger Jahre an, über das schon parallel zum Brexit verhandelt werden soll. Dagegen verweist die EU-Kommission auf die Erfahrung aus anderen Abkommen wie etwa mit Kanada (Ceta), über das sechs Jahre lang verhandelt wurde. Im Ceta-Vertrag sind allerdings keine Vereinbarungen über den komplexen Bereich der Finanzdienstleistungen enthalten, die für Großbritannien und den Finanzplatz London von enormer Bedeutung sind.
Nach dem Terroranschlag in London hatte das Duell der beiden mächtigen Frauen ruhen müssen. Die Abstimmung im schottischen Parlament wurde auf diesen Dienstagabend verschoben - nur einen Tag vor der erwarteten EU-Austrittserklärung Mays. Nun ist entschieden: Das schottische Volk wird erneut über seine Unabhängigkeit abstimmen.
Anlass für den schottischen Wunsch nach einem Referendum ist der harte Brexit-Kurs der Premierministerin. Großbritannien soll nach dem Willen Mays auch aus dem Europäischen Binnenmarkt und der Zollunion ausscheiden. Sturgeon, deren Landsleute beim Brexit-Referendum 2016 überwiegend für einen Verbleib in der EU stimmten, lehnt das ab. Zumindest will sie einen Sonderstatus für Schottland erreichen.
Doch May ist dagegen. Sie bietet der Regierung in Edinburgh lediglich mehr Kompetenzen an, sobald der Austritt vollzogen ist. Gespräche zwischen ihr und den Regierungschefs von Schottland, Nordirland und Wales verliefen bislang ohne nennenswerte Ergebnisse. „Es gab keinerlei Versuch von der britischen Regierung, einen gemeinsamen Nenner zu finden“, klagte Sturgeon.
Fraglich ist, ob sich die schottische Regierungschefin mit ihrer Forderung nach einem Unabhängigkeitsreferendum durchsetzen kann. Das letzte Wort darüber hat das Parlament in London - und ohne das Zutun der britischen Regierung ist dessen Zustimmung nicht zu bekommen.
Vor allem der Zeitplan ist umstritten. Sturgeon will noch vor dem voraussichtlichen Austritt aus der EU in zwei Jahren abstimmen lassen. May will die Sache bis nach 2019, womöglich bis nach der nächsten Parlamentswahl in Schottland 2021 aussitzen.
Rechtlich stehen Sturgeon keine Zwangsmittel zu Verfügung. Selbst die Frage, ob das Parlament in Edinburgh ein unverbindliches Referendum abhalten könnte, ist umstritten. Doch das wäre nur eine Notlösung. Es ist daher nicht klar, warum Sturgeon sich so weit nach vorne wagt.
Auch ist die Zustimmung der Schotten für eine Unabhängigkeit keineswegs gewiss. Erst 2014 hatte sich eine Mehrheit von 55 Prozent der schottischen Wähler gegen eine Loslösung von Großbritannien entschieden. Die Ausgangslage habe sich nach dem Brexit-Votum erheblich verändert, argumentiert die schottische Regierung.
Was der Abschied der Briten bedeutet
Er gilt als das Herzstück der Europäischen Union seit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1957 und der Europäischen Zollunion 1968. Großbritannien trat 1973 bei. Vollendet wurde der Binnenmarkt mit dem Vertrag von Maastricht 1992. Als Eckpfeiler gelten die „vier Freiheiten“: Freiheit des Warenverkehrs, der Arbeitskräfte, der Dienstleistungen und des Kapital- und Zahlungsverkehrs. Das heißt, die gut 500 Millionen EU-Bürger können in den 28 EU-Staaten kaufen, arbeiten und investieren, wo sie wollen.
Die EU-Länder erkennen gegenseitig ihre Regeln an und alle gemeinsam die EU-Richtlinien und Verordnungen. Die EU-Kommission ist die Überwachungsinstanz. Sie maßregelt Länder, die den Wettbewerb verzerren, ob nun mit Subventionen oder unfairen Steuervorteilen. Auch Kartelle nimmt Brüssel regelmäßig ins Visier. Üblich sind millionenschwere Bußgelder. Die EU-Gerichte bieten einen Rechtsweg.
Die 28 EU-Staaten machen dank gemeinsamer Regeln und Zollfreiheit untereinander weit mehr Geschäfte als mit Partnern außerhalb der Gemeinschaft. So hatte allein der Warenverkehr untereinander 2015 laut der Statistikbehörde Eurostat ein Volumen von 3,07 Billionen Euro - 71 Prozent mehr als mit dem Rest der Welt. Deutschland hat einen Anteil von gut einem Fünftel: 22,6 Prozent aller Warensendungen innerhalb der EU kommen aus Deutschland, 20,9 Prozent aller in der EU verschifften Güter enden dort.
Der Handel in der EU ist für Großbritannien weniger wichtig als für die Bundesrepublik. Sein Anteil an den innerhalb der EU versendeten Güter lag laut Eurostat 2015 bei 10,2 Prozent. Es ist auch das einzige Mitgliedsland, das innerhalb der EU weniger Handel treibt als mit Drittstaaten - gemessen jeweils an Aus- und Einfuhren zusammen.
Großbritannien bezieht trotzdem rund die Hälfte seiner importierten Waren aus der EU und liefert auch etwa die Hälfte seiner Exporte dorthin, wie das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) 2015 analysierte. Noch bedeutender sind britische Dienstleistungen: Hier erwirtschaftete das Königreich 2014 laut IW in der EU einen Überschuss von 19,1 Milliarden Euro, vor allem mit Finanzdienstleistungen. Eng verwoben sind beide Seiten auch in Wertschöpfungsketten. Es werden eben nicht nur fertige Produkte gehandelt, sondern auch Teile und sogenannte Vorleistungen. Hier könnte sich ein Austritt Großbritanniens aus dem Binnenmarkt besonders negativ auswirken, schließt das IW.
Die britische Regierung sieht die wirtschaftlichen Vorteile und würde sie gerne weiter nutzen. Eine der vier Freiheiten macht ihr jedoch politisch zu schaffen: die Zuwanderung von Arbeitskräften aus anderen EU-Ländern. Allein aus Polen kamen insgesamt 870 000 Menschen. Die Brexit-Befürworter beklagen den Druck auf Arbeits- und Wohnungsmarkt und wollen die Freizügigkeit stoppen. Die übrigen EU-Länder geben sich aber lhart: Zugang zum Binnenmarkt gebe es nur mit allen vier Freiheiten, „Rosinenpicken“ komme nicht in Frage.
Großbritannien ginge der ungehinderte Zugang zu einem Markt mit knapp 450 Millionen Menschen verloren. London hätte dafür bei Subventionen und Steuervorteilen freie Hand und könnte Kapital anlocken. Bei einem Ausscheiden aus der Zollunion wären wieder Zölle zwischen Großbritannien und dem Kontinent denkbar. Das Königreich könnte auch mit eigenen Handelsbündnissen, etwa mit den USA, der EU eins auswischen. Wahrscheinlich ist jedoch eine Verhandlungslösung. Premierministerin May sagte am Dienstag, sie wolle den weiteren Zugang zum Binnenmarkt mit einem „umfassenden Handelsabkommen“ sichern. Ein Zollabkommen wolle sie ebenfalls. IW-Brexit-Experte Jürgen Matthes erwartet ein Geben und Nehmen, das heißt, je mehr EU-Einfluss Großbritannien zulässt, desto mehr Marktzugang kann es erwarten. Kommen beide Seiten nicht überein, wären sie immerhin noch über die Welthandelsorganisation WTO verbunden.
Doch bislang zeigen die Umfragen auf eine Mehrheit für den Verbleib im Vereinigten Königreich. „Nachweislich bringt der Brexit keinen Umschwung in der öffentlichen Meinung zur Frage nach Schottlands Unabhängigkeit“, stellte der renommierte Politikwissenschaftler John Curtice von der Universität Strathclyde in Glasgow kürzlich fest.
Möglich also, dass Sturgeon spekuliert: Die Blockadehaltung in London gegen ein baldiges Referendum könnte ihr genug Wähler in die Arme treiben, um eine Mehrheit für die Unabhängigkeit zu bekommen.