Ungarn Wider die Zaun-Scheinheiligkeit

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Fokus auf Abwehr- und Kontrollmaßnahmen

Daran wird sich auf absehbare Zeit wenig ändern. Politische Überzeugungsarbeit wird die Aufnahmebereitschaft europäischer Bürger nicht in dem Maße erhöhen, wie es nötig wäre, damit alle Migrationswilligen gesteuert nach Europa kommen könnten. Die viel beschworene „Fluchtursachenbekämpfung“ und bessere Versorgung Geflüchteter vor Ort außerhalb Europas sind notwendig und sinnvoll und können einen Beitrag leisten. Doch die Hoffnung, dass etwa mehr Entwicklung in afrikanischen Staaten den Migrationsdruck verringert, ist trügerisch. Viele Forscher gehen davon aus, dass ein Mehr an Entwicklung in afrikanischen Staaten erst einmal mehr Bürger in die Lage versetzen wird, den Weg nach Europa anzutreten. Und auch Abkommen mit Herkunftsländern in Afrika, die legale Einwanderungsquoten und Geldzahlungen im Gegenzug für die schnelle Rücknahme illegal eingereister Staatsbürger ohne Flüchtlingsstatus vorsehen, werden nur unwahrscheinlich zu schnellem Erfolg führen.

Insofern werden Abwehr- und Kontrollmaßnahmen gegen ungeregelte Zuwanderung auf absehbare Zeit einen Fokus der Bemühungen der EU bilden. Dazu gehört neben Abmachungen mit Transitländern rund um das Mittelmeer auch die Sicherung der EU-Außengrenzen. Ungarn ist bei weitem nicht das einzige Land, das dazu auch Zäune verwendet. Spanien schützt damit seit 2005 seine Exklaven Ceuta und Melilla. Griechenland und Bulgarien nutzen Zäune an der Grenze zur Türkei.

Man kann sich trefflich über die Effektivität und Kosteneffizienz von Zäunen und Mauern streiten. Kanzleramtsminister Peter Altmaier etwa befand 2015: "Die große Chinesische Mauer hat genauso wenig funktioniert wie die Mauer, die Honecker und Ulbricht mitten in Deutschland gebaut haben“. Historiker argumentieren mit Blick auf die Chinesische Mauer oft ähnlich. Aber wir sollten uns gut überlegen, Zäune wie in Ungarn moralisch pauschal zu verdammen. Deutschland hat das Glück, keine Schengen-Außengrenzen zu haben. Aber können wir sicher sein, dass wir nicht zu ähnlichen Mitteln der Grenzsicherung wie Ungarn oder Spanien greifen würden, wenn wir in deren Situation wären?

Das macht es Demagogen wie Orban allzu leicht, die Position etwa der Kanzlerin als moralische Selbsterhöhung zu kritisieren. Nach dem Motto: Deutschland verlasse sich auf andere bei der Grenzsicherung, der Schließung der Balkanroute oder bei der Kooperation mit libyschen Milizen, die Fluchtwillige aufhalten sollen. Deutschland kritisiere Maßnahmen vom hohen moralischen Ross, von denen es profitiert.

So leicht sollte es die Bundeskanzlerin Orban nicht machen. Schon 2015 war es falsch, ihn pauschal für den Grenzzaun zu Serbien zu verdammen. Die Kritik hätte sich darauf fokussieren sollen, dass Orbans Hauptgrund für den Zaun die Umleitung der Flüchtlinge in andere EU-Länder war. Genauso sollten wir heute in den Mittelpunkt stellen, dass Orban trotz anderslautender gemeinsamer Beschlüsse und Rechtsprechung komplett die Solidarität verweigert bei der Verteilung von Flüchtlingen, Asylstandards verletzt und auch ansonsten die gemeinsamen Werte der EU mit Füßen tritt.

EU-Kommissionspräsident Juncker formulierte im Antwortbrief an Orban treffend: „Solidarität ist keine Einbahnstraße“. Ohne moralische Selbstüberhöhung mit Blick auf den Grenzzaun ist diese Kritik um einiges wirksamer.

* Dieser Artikel erschien am 07.09.2017 auf WirtschaftsWoche Online.

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