Ungarn Irrt der Westen mit seiner Kritik an Viktor Orbán?

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Nationalismus spielt in Ungarn eine große Rolle


Deshalb ist es auch wenig verwunderlich, dass viele Ungarn in Viktor Orbán einen Glückfall für ihre Politik sehen. Ihm gelingt es weniger durch Misswirtschaft und Korruption aufzufallen, wie es die sozialistische-liberale Koalitionsregierung vor ihm getan hat. Er kann vielmehr auch wirtschafts- und sozialpolitische Verbesserungen vorzeigen: „Der Erfolg von Orban hat etwas mit der massiven Diskreditierung der postsozialistischen oder postkommunistischen Regierung zu tun. Es gelingt ihm aber auch ganz deutlich alle jene anzusprechen, die unter der Europäischen Union und unter einer schwierigen wirtschaftlichen Entwicklung leiden“, sagt Joachim von Puttkamer, Professor für Osteuropäische Geschichte der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Seit 2010 leitet er das Imre Kertész Kolleg ‚Europas Osten im 20. Jahrhundert. Historische Erfahrungen im Vergleich‘.

„Bis zu den vorletzten Wahlen war Ungarn ein Land, dem es relativ schnell gelungen ist, eine gewisse demokratische Stabilität zu entwickeln mit zwei sich gegenüberstehenden Parteiblöcken, die sich alle vier Jahre abgewechselt haben. Ein Garant für politische Stabilität,“ sagt der Wissenschaftler.

Wie Staaten kommen und gehen
RuthenienDer 15 März 1939 war ein denkwürdiger Tag für Uschhorod, einer Kleinstadt in den Karpaten. Binnen eines einzigen Tags war die Kleinstadt Teil dreier unterschiedlicher Staaten. Zunächst lag Uschhorod auf dem Staatsgebiet der Tschechoslowakei – bis nach einem überhasteten Putsch der Staat Ruthenien ausgerufen wurde – inklusive Flagge, Hymne und einem eigenen Präsidenten. Damit war Uschhorod Hauptstadt des neu gegründeten Staates. Allerdings währte diese Ehre nicht lange. Noch am Tag der Unabhängigkeitserklärung marschierten Truppen aus dem Nachbarland Ungarn ein – womit Uschhorod Teil des Königreich Ungarns wurde. Die meiste Zeit des Zweiten Weltkriegs überstand Uschhorod weitestgehend ungefährdet als Teil Ungarns. 1944 marschierten doch noch die Deutschen ein – und hielten die Stadt 1 Jahr. Danach war Uschhorod beinahe ein halbes Jahrhundert Teil der Sowjet Union. Seit 1991 gehört es zur unabhängigen Ukraine – wie lange dem noch so ist, bleibt offen. Die sogenannte „Ein-Tages-Republik“ Ruthenien veranschaulicht exemplarisch, wie schnell und überraschend Staaten entstehen und wieder zerfallen können – ein Überblick.Foto: Julian Nitzsche Lizenziert unter Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Quelle: Creative Commons
PalauDer Inselstaat im pazifischen Ozean war ab dem späten 19. Jahrhundert eine Kolonie Spaniens. Ab 1899 wurde Palau Teil des deutschen Reichs. 15 Jahre später, 1914, besetzten die Japaner den Inselstaat. Während des Zweiten Weltkriegs eroberten schließlich die USA Palau. 1979 entschied sich die Bevölkerung für die Unabhängigkeit. Nach einer 25-jährigen Übergangsperiode, wurde der Inselstaat 1994 offiziell unabhängig und in die Vereinten Nationen aufgenommen. Die USA investierten 480 Millionen Dollar in die Wirtschaft des Palaus – als Gegenleistung blieben die Amerikaner weiter für die Außenpolitik der Republik zuständig. Der 20.000-Einwohner-Staat erkennt die Volksrepublik China bis heute offiziell nicht an.Foto: Manuae Lizenziert unter Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Quelle: Wikimedia Commons
SüdsudanDer jüngste selbstständige Staat der Welt ist derzeit der Südsudan. Im Juli 2011 erklärte sich die Republik als unabhängig vom Sudan – zuvor war der Südsudan eine autonome Region. Nachdem die Trennung vollzogen war, kam es immer wieder zu Unruhen innerhalb des neugegründeten Staats. Anhänger des südsudanischen Präsidenten Salva Kiir Mayadrit lieferten sich immer wieder Kämpfe mit Anhängern des von Mayadrit entlassenen Vizepräsidenten Riek Machar. Im Verlauf der Kämpfe suchten 63.000 Menschen Schutz in Lagern der UN – wie diese Kinder. Zudem entsandte die UN Blauhelme und über 1000 UN-Polizisten, um die Lage zu befrieden. Auch die Afrikanische Union schaltete sich ein. Auf ihren Druck kam Ende August dieses Jahres ein Friedensabkommen zwischen den Konfliktparteien zustande. Quelle: dpa
EritreaSeit dem fünften Jahrhundert vor Christi herrschten immer wieder verschiedene Mächte über das kleine Land am roten Meer. Eritrea war für mehr als 300 Jahre Teil des Osmanischen Imperiums. Ab 1890 wurde es zu einer italienischen Kolonie und während des Zweiten Weltkriegs Teil des britischen Königreichs. Nach einer kurzen Phase der Unabhängigkeit annektierte der äthiopische Kaiser Eritrea 1961 – das Volk setzte sich aber zur Wehr und griff zu den Waffen. Es bedurfte eines dreißig jährigen Unabhängigkeitskrieg bis Äthiopien Eritrea 1991 die Unabhängigkeit erlaubte. Mit einer Volksabstimmung im Jahr 1993 war Eritrea endgültig unabhängig. Bis heute kommt es immer wieder zu Grenzkonflikten zwischen Eritrea und Äthiopien.Foto: Optimist on the run, lizenziert unter Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Quelle: Creative Commons
SowjetunionEine sowjetische Militärparade mit Interkontinentalraketen auf dem Roten Platz in Moskau im Jahr 1990. Mit einer Fläche von über 22 Millionen km² und über 290 Millionen Einwohner (1991) war die Sowjetunion eines der größten Weltreiche aller Zeiten. 1922 wurde sie durch die Bolschewiki gegründet. Erst 68 Jahre später, 1990, erklärte sich Litauen im Zuge der Perestrojka zum souveränen Staat. Damit war es das erste Land, das sich von der Sowjetunion trennte. Seit dem 1. Mai 2004 ist Litauen Mitglied der Europäischen Union. 1991 zog Estland nach – im selben Jahr zerbrach die Sowjetunion dann endgültig. Es blieben 15 eigenständige Länder. Doch Russland scheint derzeit an Sowjet-Zeiten anknüpfen zu wollen. Wie unsicher die Grenzen in der Region sind, sieht derzeit die ganze Welt anhand der Ukraine. Der Zerfall des Kommunismus schuf insgesamt mehr als zwei Dutzend Staaten neu.Foto: DoD photo, lizenziert unter Public domain Quelle: Wikimedia Commons
Deutsch-Demokratische-RepublikDie DDR wurde 1949 gegründet. Mit dem Mauerbau 1961 bestärkte der kommunistische Teil Deutschlands die Trennung von der Bundesrepublik. Noch im Sommer 1989 glaubte niemand an ein Ende der DDR. Dass es dann doch ganz schnell ging, zeigt abermals, was für fragile Gebilde Staaten sind. Mit dem Rücktritt Erich Honeckers, dem Staatsvorsitzenden der DDR, am 18. Oktober 1989 rückte der Zerfall der DDR näher. Die SED-Führung hoffte, den Zusammenbruch zu verhindern, indem sie den Dialog mit der Bevölkerung suchte. Der Machtverfall der Staatspartei war aber nicht mehr abzuwenden. Mit der Ankündigung, die Bürger hätten bald die Möglichkeit, in den westlichen Teil Deutschlands zu reisen, war das Ende besiegelt: Am 9. November stürmten die DDR-Bürger die Mauer und schlugen erste Löcher. Nach 28 Jahren fiel die Mauer und mit ihr schließlich die DDR. Am 3. Oktober 1990 war Deutschland geeint. Quelle: dpa/dpaweb
Tschechoslowakei„Das eigentlich charakteristische dieser Welt ist ihre Vergänglichkeit“, schrieb der tschechische Schriftsteller Franz Kafka. Die Tschechoslowakei, in der auch Kafkas Heimstadt Prag lag, ist ein hervorragendes Beispiel für die Vergänglichkeit von Staaten. Gleich zwei Mal zerfiel sie: 1939 – damals wurde sie völkerrechtswidrig von NS-Deutschland annektiert. Auf dem Foto ist zu sehen, wie Panzer der Wehrmacht in Prag einrücken. Nach dem Zweiten Weltkrieg formierte sich die Tschechoslowakei 1945 neu. Schließlich und endgültig zerfiel der Vielvölkerstaat mit dem Zusammenbruch des Kommunismus 1992. Die Tschechoslowakei bestand aus Böhmen, Mähren, Schlesien, der Slowakei und der Karpartenukraine (bis 1948). Nach dem Zerfall entstanden Tschechien und die Slowakei als eigenständige Länder – die Trennung war binnen eines halben Jahres vollzogen.Foto: Lizenziert unter Public domain Quelle: Wikimedia Commons

Aber trotzdem hat Orbán die Demokratie in Ungarn nicht kaputt gemacht. „Die Verfassung kann als problematisch angesehen werden, die sich aber noch im Spektrum einer parlamentarischen Demokratie bewegt.“ Auch die linke Opposition wäre keine gute Alternative, weil sie auch eine defizitäre Demokratieauffassung hat. Der Nationalismus des Landes ist eine ungarische Wirklichkeit.

Es gelingt Viktor Orbán diese Karte besonders geschickt zu spielen: Mittlerweile hat dieser auch seinen Weg in die Verfassung gefunden hat. Diese beginnt in der Präambel mit einem "Nationalen Glaubensbekenntnis". Der Name "Republik Ungarn" wurde ersetzt durch die "Der Name unserer Heimat ist Ungarn". Das mag sich für manche Beobachter befremdlich anhören, für die Ungarn ist es in Zeiten von wirtschaftlichen und sozialen Problemen aber ein Signal.

Das ist etwas, was er geschafft hat - und wofür er von den meisten Menschen in Ungarn mindestens respektiert wird. Die Mittel, die er dazu nutzt, und vor allem seine nationalistische Rhetorik sind allerdings falsch: Denn seine Politik hetzt gegen ethnische und sexuelle Minderheiten. Der Westen irrt deshalb nicht, wenn es in Orbán einen Menschen sieht, der seinem auf einem gefährlichem Nationalismus begründet- und es liegt in der Verantwortung der Europäische Union diesem Handeln Einhalt zu bieten - und die Opposition zu stärken. Ungarn sollte sich dabei auch ins Bewusstsein rufen, dass das Land - wie es sich heute zeigt - nicht Teil der Staatengemeinschaft geworden wäre und seit seinem Beitritt 2004 auch von der Europäischen Union profitiert hat.

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