Vassilis Tsianos "Europa hat Griechenland entzweit"

Vassilis Tsianos blickt mit Sorge auf sein Heimatland. Der griechische Soziologe glaubt nicht, dass nach den Wahlen eine Regierung gebildet werden kann. Schuld hätten vor allem die Euro-Partner.

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Am Sonntagabend noch bejubelte der Chef der radikalen Linken, Alexis Tsipras, das Wahlergebnis. Doch inzwischen ist Ernüchterung eingekehrt. Im neuen griechischen Parlament gibt es keine klaren Verhältnisse, die Regierungsbildung wird schwierig. Quelle: dapd

WirtschaftsWoche Online: Herr Tsianos, die Wahlen in Griechenland haben keinen klaren Sieger hervorgebracht. Die Parteien sind zerstritten, das Volk konsterniert. Ist Ihr Heimatland unregierbar?

Vassilis Tsianos: Nein, noch nicht. Stand heute ist: Wir haben eine Regierung. Die Übergangsregierung um Ministerpräsident Lucas Papademos ist ja noch Amt – und könnte die Amtgeschäfte auch noch gut weiterführen. Was danach kommt, ist in der Tat ungewiss. Die Parteien haben große Probleme, Mehrheiten zu finden und Koalitionen zu bilden. Das Wahlergebnis ist schwierig.

Haben Sie trotz der schwierigen Mehrheitsverhältnisse noch Hoffnung, dass eine Regierung gebildet werden kann?

Nein, realistisch gesehen gibt es nur einen Ausweg und das sind Neuwahlen. Das wissen auch alle Parteien. Mit den derzeitigen Mehrheitsverhältnissen lässt sich nicht arbeiten. Die Parteien sind zu zerstritten, die Bevölkerung zu polarisiert.

Was sind die Gründe dieser extremen Polarisierung?

Die Gründe liegen in der Politik der europäischen Staats- und Regierungschefs. Die Bevölkerung ist nicht mehr bereit, weitere Spareinschnitte hinzunehmen. Sie kann nicht mehr. Das ist umso dramatischer, da sich die große Mehrheit der Bürger zu Europa und zum Euro bekennt. Den Griechen wird aber derzeit keine Perspektive aufgezeigt. Die Sparbeschlüsse müssen aufgeweicht werden. Griechenland muss seine volle Staatssouveränität zurückbekommen. Gleichzeitig muss über die Rückzahlung der Schulden neu verhandelt werden - und ein Wachstumspakt erarbeitet werden.

Das sind viele Forderungen. Hat Griechenland nicht zunächst eine Bringschuld? Müsste sich die griechischen Parteienlandschaft nicht zum Sparen verpflichten?

Das hat die Übergangsregierung ja. Und auch Antonis Samaras, der Chef der konservativen Nea Demokratia hat sich auf Europa zubewegt und seine Protesthaltung aufgeben. Doch das Volk belohnt diese Schritte nicht. Die Konservativen haben an Stimmen eingebüßt und die Sozialisten haben fast 30 Prozent der Stimmen verloren - obwohl sie ordentliche Politik gemacht haben. Zu strikte Töne und Forderungen aus Brüssel stärken die Radikalen. Das zeigt sich ja nicht nur in Griechenland, sondern diese Erkenntnis war auch ein Ergebnis der Frankreich-Wahl.

Warum in Griechenland alles offen ist

Was raten Sie den europäischen Partnern mit Blick auf Griechenland?

Ich hoffe, dass sich Frau Merkel aus dem neuerlichen Wahlkampf heraushält, sollte es zu Neuwahlen kommen. Samaras hat zudem ja auch EU-Kommissionspräsident Manuel Barroso aufgefordert, sich bedächtiger zu äußern. Ich glaube, das ist ein guter Rat.

"Die wichtigsten Stunden der neueren griechischen Geschichte"

Nationalisten schwimmen auf der Euro-Welle
„Die EU ist ein impotentes Imperium, das Frankreich ausgeplündert hat.“Frankreich steht vor ungemütlichen Wochen. Der rechtspopulistische Front Nation von Parteichefin Marine Le Pen ist Umfragen zufolge die derzeit populärste Partei in Frankreich. Nach Siegen bei Regionalwahlen hoffen die Euro- und Europa-Kritiker nun, auch bei der Europawahl im kommenden Jahr punkten zu können. Aggressiver als alle anderen Politiker hat Le Pen die Ängste vor der Globalisierung und vor den Folgen der Krise verdichtet: An allem sei die EU und die Banken schuld, in deren Auftrag die europäischen Funktionäre handelten. Le Pen will Europa zerschlagen, damit Frankreich wieder Herr im eigenen Hause ist. Quelle: REUTERS
"Ich beuge mich nicht dem Diktat unnützer Forderungen aus Brüssel"Die Regierungskoalition in den Niederlanden ist Ende April 2012 zerbrochen, weil sich Geert Wilders - der die europafreundliche Minderheitsregierung von Mark Rutte duldete - nicht länger dem "Spardiktat" und "unnützen Forderungen" aus Brüssel beugen wollte. Wilders Partei verlor daraufhin bei den Parlamentswahlen deutlich an Stimmen. Nun hofft Wilders bei den Europawahlen 2014 punkten zu können. Quelle: REUTERS
„Wir sagen Nein zu allem. Wir sind für den Umsturz“Schuldendesaster und Rezession bewegen immer wieder griechische Politiker zu scharfen Tönen gegenüber der Europäischen Union. Die Regierung von Antonis Samaras ist derzeit zwar stabil, doch keiner weiß, ob bei einer Zuspitzung der Krise die radikalen Kräfte ein Comeback feiern können. Offen europafeindlich geben sich die stalinistischen griechischen Kommunisten (KKE). „Wir sagen Nein zu allem. Wir sind für den Umsturz“, sagte KKE-Generalsekretärin Aleka Papariga (Foto). Quelle: Handelsblatt Online
„Wir sollten erwägen, mit möglichst geringem Schaden die Euro-Zone zu verlassen“Nur knapp bei den letzten Wahlen musste sich Kabarettist Beppe Grillo geschlagen geben. Aufgegeben hat er längst nicht. Er macht lautstarke Opposition. Gegen die Regierung und gegen die Europäische Union. Quelle: AP
"Deutschland und Frankreich zwingen der EU ihre rigorose Sparpolitik auf"Die Schuldenkrise und der Sparkurs waren die Hauptgründe dafür, dass die Spanien im November 2011 die sozialistische Regierung abwählten und der konservativen Partido Popular das beste Ergebnis ihrer Geschichte bescherten. Doch ihr Stimmenanteil ist in Umfragen von 45 Prozent auf inzwischen rund 38 Prozent geschrumpft. Premier Mariano Rajoy (im Bild) bekommt den Unmut der Wähler zu spüren. Vor allem die Arbeitsmarktreform mit der Lockerung des Kündigungsschutzes oder die jüngsten Einsparungen im Gesundheits- und Bildungssystem lassen seine Zustimmungswerte sinken. Quelle: REUTERS

Was erwarten Sie von den griechischen Parteien vor möglichen Neuwahlen?

Ich glaube, dass der Druck auf die Parteien vor dem zweiten Urnengang steigt. Die Volksvertreter müssen sich neu aufstellen, neue Namen und neue Positionen in den Ring werfen. Und neue Koalitionsmöglichkeiten aufzeigen. Die Vorsitzenden aller großen Parteien, vom konservativen Antonis Samaras über den Sozialisten-Chef Evangelos Venizelos bis zum Linksradikalen Alexis Tsipras, müssen klar machen, was die Wahl bedeutet. Es ist eine Schicksalswahl, die Bürger müssen rational entscheiden.

Ein großer Teil der Wahlberechtigten müsste überhaupt erst einmal zur Wahl gehen.

Richtig. Am Sonntag blieben 34 Prozent der Wahlberechtigten der Wahlurne fern. Ich glaube, dass sich bei einem zweiten Wahlgang mehr Wähler mobilisieren lassen würden. Auch die Diaspora-Griechen werden sich stärker beteiligen. Auch ich werde nach Griechenland fliegen und meine Stimme abgeben. Denn es sind die wichtigsten Stunden der neueren griechischen Geschichte.

Welchen Ausgang erwarten Sie?

Ich denke, dass wir ein ähnliches Ergebnis bekommen wie am Sonntag. Die beiden Volksparteien Nea Demokratia und Pasok können vielleicht auf ein paar Prozentpunkte zusätzlich hoffen, sie werden aber keine Regierungsmehrheit bekommen. Sie müssen also eine Koalition mit einer dritten oder vierten Partei eingehen. Das muss im Vorfeld geklärt werden. Ein Partner wäre die kleinere Demokratische Linke.

Was halten Sie von der Alternative: Eine linksextreme Regierung, die den Sparpakt aufkündigt und die Rückkehr zur Drachme forciert?

Das wäre eine Katastrophe. Es würde Griechenland zurückwerfen und ins Chaos stürzen. Es wäre aber auch für Europa ein schlechtes Zeichen. Das politische Projekt wäre damit am Ende. Wir sollten alle hoffen, dass sich Griechenland stabilisiert.

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