Vereinigtes Königreich ohne Europa Überlebensfrage Brexit

Ist ein EU-Austritt Großbritanniens ohne Abkommen noch abzuwenden? Quelle: dpa

Was macht der Brexit mit dem Vereinigten Königreich? Befürworter glauben an eine Stärkung, andere warnen vor einem bösen Erwachen und sehen schon den Untergang am Horizont. Historiker sind bei der Prognose gespalten.

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Als die Briten vor drei Jahren im Brexit-Referendum Europa die Scheidung erklärten, trug sie auch das Gefühl, ohnehin anders zu sein als die Nachbarn auf dem Kontinent. Ein königliches Inselreich, das sich der Vereinnahmung verwehrt. Brexit-Hardliner Jacob Rees-Mogg hat dafür den Vergleich mit historischen Siegen der Engländer auf dem Schlachtfeld gezogen: „Es ist Waterloo, es ist Agincourt, es ist Crecy“, sagte er.

Nigel Farage, der Chef der neu gegründeten Brexit-Partei, feuert seine Anhängerschaft sogar mit Bombenalarm-Sirenen und der Musik aus dem Kriegsfilm „The Great Escape“ („Gesprengte Ketten“) an. Politiker wie Farage und Rees-Mogg treffen auch drei Jahre nach dem Referendum und nach wie vor ungeklärtem Brexit-Modus den Nerv vieler Landsleute. Doch wohin Großbritannien treibt, bleibt fraglich.

Brexit-Gegner und so manche Historiker warnen vor dem simplen Erklärmuster der Nationalisten. Dass das Vereinigte Königreich ohne Europa stärker ist und wird, halten sie für einen Trugschluss. „Eine zerstörerische, populistische, nationalistische Ideologie“ lasse das Vereinigte Königreich „in die Vergessenheit schlafwandeln“, schrieb der ehemalige Premierminister Gordon Brown am Sonntag in der Zeitung „The Observer“.

Brown, Regierungschef von 2007 bis 2010, warf dem neuen konservativen Premierminister Boris Johnson vor, er beschwöre „ein absurdes und verlogenes Bild der patriotischen Briten herauf, die tapfer einem kompromisslosen Europa die Stirn bieten, das entschlossen ist, uns zu einem Vasallenstaat zu machen“. Zunehmend werde über Europa gesprochen, als ob es „irgendwo anders“ sei, beklagt Richard Evans, emeritierter Geschichtsprofessor aus Cambridge. „Als ob Großbritannien nicht Teil Europas sei“.

Bezeichnend dafür seien auch Slogans aus der Werbung. „Ich war kürzlich am Flughafen Gatwick, und dort ist eine riesige Reklametafel für eine Fluggesellschaft, auf der es heißt ‚Europa ist näher als du denkst‘“, sagt Evans. „Ich dachte mir, ja, es ist näher als du denkst – wir sind mitten drin.“ Die Ansicht, dass Großbritannien die Ausnahme zur europäischen Regel ist, ignoriere die „vielfachen Verbindungen zwischen England und dem Kontinent über die Jahrhunderte hinweg“, sagt der Historiker. Auf dem englischen Thron seien Herrscher mit französischen oder deutschen Wurzeln gesessen, und kulturell sei Großbritannien ebenso mit dem Kontinent verwoben.

Auch die Geschichtsprofessorin Margaret MacMillan von der Universität Toronto sieht den Brexit von „einem völlig falschen Bild der Vergangenheit“ und von einer Nostalgie angetrieben, die den Zeiten nachhängt, als das britische Empire ein Viertel des Globus umspannte. Viele Menschen in Großbritannien, und vor allem in England, seien angesichts der existenziellen Frage, „wer sie sind“, in der Krise, glaubt MacMillan. „Sie haben ihr Empire verloren und sind nicht länger eine große Weltmacht, und sie scheinen das akzeptiert zu haben, aber ich denke, es gibt ein überdauerndes Gefühl von ‚Wir waren mal groß und sind es nicht mehr‘“, erklärt die Historikerin.

Dass sich das Vereinigte Königreich mit solchen Stimmungen in den Brexit verrenne, weisen die Befürworter des EU-Ausstiegs klar zurück. Vielmehr stellen sie die Union als undemokratische Hürde für die britische Souveränität in den Vordergrund. Der Historiker Robert Tombs aus Cambridge sieht zwar ein historisch distanzierteres Verhältnis der Briten zum europäischen Zusammenschluss, glaubt aber, dass die Unterschiede überschätzt würden. Der Brexit sei eher aktuellen Bedenken geschuldet, meint Tombs.

„Wir waren sicherlich weniger eingebunden in die ganze Idee der europäischen Integration als Länder wie Frankreich oder Deutschland“, räumt der Wissenschaftler ein. „Aber ich denke, dass die Haltung zu Europa in vielen EU-Ländern nicht viel anders ist“, sagt er. „Und ich denke, dass das viel mit jüngeren Entwicklungen zu tun hat wie der Krise in der Eurozone, dem demokratischen Defizit in der EU und der Tatsache, dass die EU so viel wichtiger für das Leben der Menschen geworden ist und diese aber zugleich so wenig Kontrolle darüber haben, was sie tut.“

In einer Zeit internationaler Instabilität sei Großbritannien außerhalb des europäischen Blocks besser bedient, glaubt Tombs. Als „einigermaßen geschlossene und einigermaßen demokratisch regierte Einheit“ könne das Vereinigte Königreich kommenden Stürmen besser trotzen als „ein eher wackeliger und unpopulärer und sehr schwacher Staatenbund“.

Dem halten Brexit-Kritiker wie Gordon Brown entgegen, dass derzeit auch die demokratischen Institutionen ihrer Heimat bedroht seien. Der Stichtag 31. Oktober für den Brexit naht, und noch immer sind die genauen Modalitäten nicht geklärt. Johnson zeigt sich selbst ohne Vertrag zur Scheidung im Herbst entschlossen, auch wenn das Parlament auf einen Deal beharren sollte.

Sollte Johnson sowohl das Parlament als auch das Volk bei der Entscheidung, ohne Vertrag auszuscheiden, übergehen, würde er „die schwerste Verfassungskrise hervorrufen, seit das Verhalten von Karl I. zum Bürgerkrieg führte“, warnte Ex-Außenminister Malcolm Rifkind in einem Brief an die Londoner Zeitung „The Times“. Der Machtkampf im 17. Jahrhundert endete mit der Hinrichtung des Monarchen. Auch der Druck auf das Bündnis der vier Länder im Vereinigten Königreich dürfe nicht kleingeredet werden, betonen Brexit-Kritiker.

In Schottland, das noch 2014 gegen eine Abspaltung von England stimmte, sich dann 2016 aber mehrheitlich für einen Verbleib in der EU aussprach, werden die Rufe nach einem neuen Unabhängigkeitsreferendum immer lauter. Und in Nordirland, ebenfalls mehrheitlich gegen den Brexit, hat das Drohgespenst einer stark bewachten Grenze zum Süden der Insel den Rückhalt für ein vereinigtes Irland wachsen lassen.

„Ich hätte nie gedacht, dass ich Leute in Nordirland so darüber reden hören würde, dass es Zeit sein könnte für eine Wiedervereinigung mit dem Süden“, sagt die Historikerin MacMillan. Was die nordirischen protestantischen Unionisten seit jeher strikt ablehnten, sei inzwischen auch in ihren Reihen angekommen. „Es gab immer Fantasten, die sagten ‚Eines Tages sind wir wiedervereinigt‘, aber jetzt hört man es auch von gemäßigten Protestanten“, erklärt MacMillan. „Es kann gut sein, dass das Vereinigte Königreich nicht überlebt, wenn es zum Brexit kommt.“

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