Verschobene Impfungen, Lieferengpässe, Intransparenz Verpatzter Impfstart: Was läuft bloß falsch in Deutschland?

Die Impfungen in Deutschland kommen nicht so voran, wie erhofft. Quelle: dpa

Vakzine sind die großen Hoffnungsträger. Doch in Deutschland werden sie nicht im selben Tempo verabreicht wie in manch anderem Land. Woran es liegt, wie es besser ginge. Die wichtigsten Fragen und Antworten.

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Der Frust ist groß. Gerade erst mussten sich die Deutschen auf eine Verlängerung des Lockdown einstellen. Und gleichzeitig kommen die Impfungen nicht voran wie erhofft.

Am Mittwoch kündigte Nordrhein-Westfalen an, Impfungen von über 80-Jährigen in Altenheimen um eine Woche zu verschieben. „Gut läuft es nicht, kann man ganz einfach sagen“, betont Bayerns Ministerpräsident Markus Söder. Wer trägt die Verantwortung? Und was läuft in anderen Ländern besser?

Warum wurde die Impfung in Nordrhein-Westfalen verschoben?
Der US-Konzern Pfizer, der den Impfstoff von Biontech im belgischen Puurs produziert, stellt die Produktion um und hat deswegen Lieferschwierigkeiten. Deutschland wird in den kommenden Wochen bis zu 2,6 Millionen weniger Dosen als geplant erhalten. Bis zum Ende des Quartals soll der Rückstand aber wieder aufgeholt sein. Die EU-Kommission erfuhr erst am vergangenen Freitag von Änderungen im Lieferplan und reagierte entsprechend verärgert.

Hätte eine höhere Bestellung der EU im November die aktuellen Lieferengpässe vermieden?
Wohl nicht. Biontech/Pfizer hat nicht zum ersten Mal Lieferschwierigkeiten. Laut Vertrag hätten 2020 insgesamt 25 Millionen Dosen an EU-Länder geliefert werden müssen. Weil Biontech/Pfizer die Menge weltweit halbiert hat, wurde die Menge auch für die EU auf 12,5 Millionen Dosen reduziert. Doch nicht einmal die wurden geliefert.

War die EU insgesamt zu vorsichtig bei der Impfstoffbestellung? Hätte sie von jedem Hersteller so viel Impfstoff bestellen sollen, dass der für die gesamte EU-Bevölkerung ausreicht?
Kanada hat sehr viel großzügiger bestellt, 414 Millionen Dosen bei sieben Herstellern für 38 Millionen Einwohner. Wenn alle Impfstoffe erfolgreich auf den Markt kommen, dann könnte die Bevölkerung fünf Mal geimpft werden. In Europa gab es keinen Konsens unter den Mitgliedsstaaten ähnlich stark vorzusorgen. Bis zum Jahreswechsel waren für 450 Millionen Einwohner etwas über zwei Milliarden Dosen geordert.

Hatte die EU Bedenken gegen innovative Hersteller wie Biontech und Curevac und bevorzugte die Konzerne?
Die ersten beiden Order wurden mit AstraZeneca und Sanofi vereinbart. In Brüssel und unter den Mitgliedsstaaten gab es die Sorge, dass kleine Unternehmen nicht schnell und zuverlässig in die Produktion großer Mengen einsteigen könnten. Mitgliedsstaaten, vor allem aus Osteuropa, störten sich an den höheren Preisen der innovativen Impfstoffe. Bei Biontech kam die komplizierte Logistik hinzu. Der Impfstoff muss bei minus 70 Grad gelagert werden. Viele Länder hofften auf einen schnellen Durchbruch bei AstraZeneca, dessen Impfstoff leichter zu handhaben ist. Beim Impfstoff von Johnson & Johnson wird nur eine Dosis notwendig sein. Auch das gefiel vielen Mitgliedsstaaten.

Warum ist die Intransparenz ein Problem?
Bisher hat die EU-Kommission nur den Vertrag von Curevac zugänglich gemacht – vorerst sollte ihn nur eine ausgewählte Gruppe von Europaabgeordneten lesen. Mittlerweile hat die Kommission den Vertrag unbemerkt ins Internet gestellt. Alle anderen Hersteller haben sich bisher gegen Transparenz verwehrt. So lange die Verträge aber geheim bleiben, kann die Öffentlichkeit nicht nachvollziehen, über was eigentlich verhandelt wurde. Die Gespräche mit Pfizer haben sich wegen Haftungsfragen in die Länge gezogen. Das Unternehmen wollte die Haftung so weit wie möglich von sich abwälzen.

Warum liegt die Impfquote in einem Land wie Israel so viel höher?
Israel hat bereits über 35 Prozent seiner Bevölkerung geimpft, verglichen mit 1,6 Prozent in Deutschland. Die Gründe für den Vorsprung sind vielfältig. Israel zahlt geschätzt doppelt so viel wie die EU für den Biontech-Impfstoff. Und Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat durch zahlreiche Telefonate beim Chef von Pfizer dafür gesorgt, dass der Impfstoff schnell ins Land kommt. Auch Daten spielen eine Rolle. Pfizer und Biontech bekommen in großem Umfang Zugang zu Patientendaten, was der weiteren Erforschung des Impfstoffs hilft.

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Was hätte in Europa besser laufen müssen?
Im Rückblick erweisen sich limitierte Produktionskapazitäten als eigentlicher Engpass – wie es auch das Beispiel Pfizer zeigt. In Marburg entsteht gerade eine neue Produktionsstätte für den Impfstoff von Biontech/Pfizer, die in Februar in Betrieb gehen soll. Die EU-Kommission und die Mitgliedsstaaten haben das Problem der Produktionskapazitäten bei ihren Beratungen nicht ausreichend diskutiert. Aus heutiger Sicht wäre es billiger gewesen, mit öffentlichen Geldern früher Fabriken hochzuziehen. Die Kosten dafür wären niedriger ausgefallen als die eines anhaltenden Lockdowns.

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