Britischer Exzeptionalismus Der Hochmut, der das Chaos brachte

Quelle: imago images

Raus aus der EU, rein in die Pandemie: Großbritannien droht, das wirtschaftlich am härtesten getroffene, westliche Industrieland zu werden. Die Situation wurzelt in der tiefen Überzeugung, man sei etwas ganz Besonderes.

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Es ist schon viereinhalb Jahre her, dass die Europäische Union in ihren Grundfesten erschüttert wurde. Die Briten stimmten mit knapper Mehrheit dafür, der EU den Rücken zu kehren. Doch der Brexit-Prozess, der die Bedingungen des Austritts und die zukünftigen Beziehungen regeln sollte, versank schnell im Chaos. Viele Europäer nahmen es daher kaum noch wahr, dass Großbritannien die EU im vergangenen Januar tatsächlich verlassen hat. In wenigen Tagen endet auch die Brexit-Übergangsfrist, während sich im Alltag nur wenig verändert hat. Doch selbst jetzt ist noch immer nicht klar, ob es ein Handelsabkommen zwischen Großbritannien und der EU geben wird. Es droht, mal wieder, ein No-Deal-Szenario.

Und selbst, falls sich beide Seiten doch noch auf ein Abkommen verständigen sollten, dürfte es auf absehbare Zeit immer wieder Streit geben. Denn weite Teile der britischen Eliten sind gefangen in der jahrhundertealten Vorstellung vom „britischen Exzeptionalismus“. Jener Gedankenwelt, der zufolge Großbritannien von seiner Wesensart her so ausgesprochen andersartig und herausragend sei, dass es eine Sonderrolle einnehmen müsse.

Der Brexit ist ein Nebenprodukt dieser Vorstellung. Die Liste der Gründe, die 2016 zum Leave-Votum geführt haben, ist lang. Das enorme Wohlstandsgefälle und die gravierende Armut in vielen Landesteilen haben sicher eine ebenso große Rolle gespielt wie das Gefühl vieler Briten, vom fernen London ignoriert zu werden. Zugleich herrscht bei einigen führenden Köpfen in Wirtschaft, Politik und in den Medien seit Jahrzehnten das Bild vor, die EU-Mitgliedschaft hindere die ehemalige Supermacht Großbritannien daran, ihr volles Potenzial zu entfalten.

Diese unterschiedlichen Gruppen erreichte die Vote-Leave-Kampagne - deren öffentliches Gesicht der heutige Premier Boris Johnson war – mit einem so simplen wie genialen Wahlspruch: „Take back control!“ Holt euch die Kontrolle zurück!

Kaum ein anderer forciert dabei so häufig die Vorstellung von der Besonderheit Großbritanniens wie Boris Johnson. Er erzählt seinen Landsleuten auch nach über vier Jahren Tauziehen um ein Brexit-Abkommen, dass die EU schon ein großartiges Handelsabkommen gewähren werde, um nicht den wirtschaftlichen Ruin zu riskieren, wenn die Briten einfach woanders ihre Waren bestellten. Einem italienischen Minister sagte Johnson einmal, Rom wolle doch sicher keine Einbrüche bei den Prosecco-Exporten ins Vereinigte Königreich riskieren. In Großbritannien wurde er für seine Großspurigkeit mit reichlich Spott überschüttet. Carlo Calenda, der betreffende Minister, bezeichnete die Äußerung gar als „beleidigend“.

Im Sommer ließ Johnson den Jet der Royal Air Force, der ihm und der königlichen Familie für Dienstreisen zur Verfügung steht, in den Farben der britischen Flagge streichen. Kostenpunkt der Aktion: 900.000 britische Pfund. Das Magazin „New Statesman“ bezeichnete die Aktion als „kitschigen Chauvinismus“ und „unechten Patriotismus“, der lediglich dazu diene, an den Glauben vom britischen Exzeptionalismus zu appellieren.

Die Vorstellung, das eigene Land bilde „das Zentrum der Welt“, sei sicher keine ausschließlich „britische Krankheit“, schreibt der Autor Otto English (a.k.a. Andrew Scott) in einem schwer selbstironischen Artikel im Online-Magazin „Politico“. „Aber während die Krankheit bei anderen zu sporadischen Anfällen von Chauvinismus führt, scheint sie bei den Briten unheilbar zu sein.“

In den schwierigen Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg sei viel von dieser „Selbstüberschätzung“ auf dem „Dachboden der Geschichte“ gelandet, schreibt English weiter. Doch dann habe ausgerechnet der Beitritt zu den Europäischen Gemeinschaften und der daraus resultierende Wirtschaftsboom die nationalistischen Stimmen im Land beflügelt. „Der erneute Erfolg ging mit einer unerwünschten Rückkehr der alten Eitelkeit einher.“

Das machte sich recht schnell im politischen Alltag Brüssels bemerkbar. Denn die Vorstellung, Großbritannien könne einfach nur ein gleichberechtigtes EU-Mitglied sein, erschien den meisten britischen Regierungschefs wohl undenkbar. London forderte immer häufiger maßgeschneiderte Sonderlösungen. Die Beiträge? Zu hoch! Der Britenrabatt musste her. Schengen oder Euro? Wollte man in London nicht. Eine europäische Armee? Keine Chance.

Die Vorstellung vom britischen Exzeptionalismus ging so weit, dass die Befürworter eines Verbleibs in dem Bündnis vor dem Referendum 2016 argumentierten, Großbritannien solle in der EU bleiben, damit es sie anführen könne. Der Historiker Robert Saunders schreibt dazu, darin habe sich das „imperiale Erbe“ genau so sehr widergespiegelt wie in den Bestrebungen, die EU zu verlassen. Vorstellungen wie diese hätten allerdings über die Jahre zu überzogenen Erwartungshaltungen geführt, die letztendlich zur Enttäuschung vieler Briten mit dem europäischen Projekt beigetragen haben könnten.

Großbritanniens verpatzter Corona-Sonderweg

Der Brexit allein dürfte folgenschwer genug sein. Doch viele Briten müssen derzeit für die Vorstellung vom britischen Exzeptionalismus mit ihrem Leben bezahlen. Denn als die Coronapandemie Anfang des Jahres auf Europa zurollte, blieb die britische Regierung wochenlang so gut wie tatenlos. Noch Anfang März erklärte Johnson, für die meisten Menschen in Großbritannien werde das Leben trotz Corona wie gewohnt weitergehen. Die Risiken seien „abschätzbar“ und „sehr gering“. Er selbst habe am Abend zuvor ein Krankenhaus besucht, fügte Johnson dann hinzu, und habe „allen die Hände geschüttelt“ und werde das auch weiterhin tun.

Als kurz darauf immer mehr Staaten in den Lockdown gingen, blieben in Großbritannien Clubs, Pubs, Restaurants und Konzertsäle offen. Mitte März schauten sich eine Viertelmillion Besucher das alljährliche Pferderennen in Cheltenham an. Wenige Tage zuvor waren tausende Fußballfans aus der Corona-Hochburg Madrid nach Großbritannien geflogen, um sich das Champions-League-Spiel ihres Vereins Atletico Madrid gegen den Liverpool FC anzuschauen. Experten sind sich heute sicher, dass dieses Match Menschenleben gekostet hat.

Scheinbar plante die Regierung in London etwas, was sie heute vehement bestreitet: die Bevölkerung erkranken zu lassen, um so für eine Herdenimmunität zu sorgen. Während beinahe die ganze Welt die Pandemie mit Kontaktsperren in den Griff zu bekommen versuchte, entschied sich Johnson für einen britischen Sonderweg. Erst, als Forscher am Imperial College in London Mitte März Modellrechnungen vorlegten, denen zufolge diese Strategie zum Tod Hunderttausender führen könnte, änderte die Regierung hastig ihren Kurs und ordnete doch noch einen Lockdown an.

Seitdem verging kaum eine Woche, ohne dass ein Minister oder Premier Johnson selbst einen neuen Rekord an Corona-Tests oder eine spektakuläre technologische oder medizinische Neuerung ausrief. Als die britische Medikamenten-Zulassungsbehörde kürzlich den Impfstoff von Biontech und Pfizer in einer Eilentscheidung in Großbritannien zuließ, erklärte Erziehungsminsiter Gavin Williamson allen Ernstes, Großbritannien sei eben „ein sehr viel besseres Land“ als beispielsweise Frankreich, Belgien und die USA. Plumper kann man das Phantasiegebilde vom britischen Exzeptionalismus wohl kaum zum Ausdruck bringen.

Diese Rhetorik wirkt auch aus einem anderen Grund enorm realitätsfremd. Denn in kaum einem anderen westlichen Industrieland sind, im Verhältnis zur Bevölkerungszahl, so viele Menschen im Zusammenhang mit Corona gestorben wie in Großbritannien. Johnson selbst musste die bittere Erfahrung machen, dass sich das Virus weder für seinen Glauben an sich selbst noch für seine von Pathos durchtränkten Reden interessierte: Er erkrankte so schwer an Covid-19, dass er zeitweise auf der Intensivstation behandelt werden musste und beinahe selbst an dem Virus gestorben wäre.

Und Großbritannien droht, das wirtschaftlich am schwersten getroffene Industrieland zu werden. So geht die OECD davon aus, dass das britische Bruttosozialprodukt in diesem Jahr um 11,5 Prozent schrumpfen wird - mehr als in Spanien, Frankreich oder Italien.

Londons Antwort auf die Coronapandemie ist ein Fiasko. Und was tat die Regierung? Downing Street drängt weiter darauf, dass die Verhandlungen mit Brüssel bis Ende des Jahres abgeschlossen sein müssen. Gerade so, als hätte in Europa gerade niemand etwas anderes zu tun.

Autor Otto English bringt es auf den Punkt: Großbritannien muss sich von seiner „imaginären“ Geschichte trennen, um die ständig wiederkehrenden Anfälle „ungerechtfertigten Überlegenheitsgefühls“ zu stoppen. „Tragischerweise sitzt die Täuschung so tief, dass man sich kaum vorstellen kann, dass ein solcher Tag jemals kommen wird.“

Mehr zum Thema: Während in Asien das größte Freihandelsabkommen der Welt unterzeichnet wird, kämpft Großbritannien darum, nächstes Jahr nicht mit komplett leeren Händen dazustehen.

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