Britischer Exzeptionalismus Der Hochmut, der das Chaos brachte

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Großbritanniens verpatzter Corona-Sonderweg

Der Brexit allein dürfte folgenschwer genug sein. Doch viele Briten müssen derzeit für die Vorstellung vom britischen Exzeptionalismus mit ihrem Leben bezahlen. Denn als die Coronapandemie Anfang des Jahres auf Europa zurollte, blieb die britische Regierung wochenlang so gut wie tatenlos. Noch Anfang März erklärte Johnson, für die meisten Menschen in Großbritannien werde das Leben trotz Corona wie gewohnt weitergehen. Die Risiken seien „abschätzbar“ und „sehr gering“. Er selbst habe am Abend zuvor ein Krankenhaus besucht, fügte Johnson dann hinzu, und habe „allen die Hände geschüttelt“ und werde das auch weiterhin tun.

Als kurz darauf immer mehr Staaten in den Lockdown gingen, blieben in Großbritannien Clubs, Pubs, Restaurants und Konzertsäle offen. Mitte März schauten sich eine Viertelmillion Besucher das alljährliche Pferderennen in Cheltenham an. Wenige Tage zuvor waren tausende Fußballfans aus der Corona-Hochburg Madrid nach Großbritannien geflogen, um sich das Champions-League-Spiel ihres Vereins Atletico Madrid gegen den Liverpool FC anzuschauen. Experten sind sich heute sicher, dass dieses Match Menschenleben gekostet hat.

Scheinbar plante die Regierung in London etwas, was sie heute vehement bestreitet: die Bevölkerung erkranken zu lassen, um so für eine Herdenimmunität zu sorgen. Während beinahe die ganze Welt die Pandemie mit Kontaktsperren in den Griff zu bekommen versuchte, entschied sich Johnson für einen britischen Sonderweg. Erst, als Forscher am Imperial College in London Mitte März Modellrechnungen vorlegten, denen zufolge diese Strategie zum Tod Hunderttausender führen könnte, änderte die Regierung hastig ihren Kurs und ordnete doch noch einen Lockdown an.

Seitdem verging kaum eine Woche, ohne dass ein Minister oder Premier Johnson selbst einen neuen Rekord an Corona-Tests oder eine spektakuläre technologische oder medizinische Neuerung ausrief. Als die britische Medikamenten-Zulassungsbehörde kürzlich den Impfstoff von Biontech und Pfizer in einer Eilentscheidung in Großbritannien zuließ, erklärte Erziehungsminsiter Gavin Williamson allen Ernstes, Großbritannien sei eben „ein sehr viel besseres Land“ als beispielsweise Frankreich, Belgien und die USA. Plumper kann man das Phantasiegebilde vom britischen Exzeptionalismus wohl kaum zum Ausdruck bringen.

Diese Rhetorik wirkt auch aus einem anderen Grund enorm realitätsfremd. Denn in kaum einem anderen westlichen Industrieland sind, im Verhältnis zur Bevölkerungszahl, so viele Menschen im Zusammenhang mit Corona gestorben wie in Großbritannien. Johnson selbst musste die bittere Erfahrung machen, dass sich das Virus weder für seinen Glauben an sich selbst noch für seine von Pathos durchtränkten Reden interessierte: Er erkrankte so schwer an Covid-19, dass er zeitweise auf der Intensivstation behandelt werden musste und beinahe selbst an dem Virus gestorben wäre.

Und Großbritannien droht, das wirtschaftlich am schwersten getroffene Industrieland zu werden. So geht die OECD davon aus, dass das britische Bruttosozialprodukt in diesem Jahr um 11,5 Prozent schrumpfen wird - mehr als in Spanien, Frankreich oder Italien.

Londons Antwort auf die Coronapandemie ist ein Fiasko. Und was tat die Regierung? Downing Street drängt weiter darauf, dass die Verhandlungen mit Brüssel bis Ende des Jahres abgeschlossen sein müssen. Gerade so, als hätte in Europa gerade niemand etwas anderes zu tun.

Autor Otto English bringt es auf den Punkt: Großbritannien muss sich von seiner „imaginären“ Geschichte trennen, um die ständig wiederkehrenden Anfälle „ungerechtfertigten Überlegenheitsgefühls“ zu stoppen. „Tragischerweise sitzt die Täuschung so tief, dass man sich kaum vorstellen kann, dass ein solcher Tag jemals kommen wird.“

Mehr zum Thema: Während in Asien das größte Freihandelsabkommen der Welt unterzeichnet wird, kämpft Großbritannien darum, nächstes Jahr nicht mit komplett leeren Händen dazustehen.

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