Erstmals seit Jahren war die Europawahl 2019 kein mechanisch ausgeführter Akt, sondern sprühte vor Geist, Debatte und gelebter Demokratie. Ein Hauch von Revolution wehte da durch das verkrustete Europa. Und auch durch Deutschland, wo die jungen Wähler grüne und Kleinparteien nach oben spülten und die Altparteien gründlich blamierten.
Ihre Wahl war eine Wahl für Aufbruch, Demokratie, Mitbestimmung. Es wäre der Moment gewesen, die so vorgefertigten wie ausgetretenen Pfade zu verlassen und frisch zu überlegen, wo die EU eigentlich hinsteuern soll. Es wäre der Moment gewesen, in dem die Altparteien sich hätten fragen müssen, was da eigentlich schief gelaufen ist in den vergangenen Jahren. Es ist eine Menge.
Stattdessen wiederholt die EU ihre schlimmsten Fehler und setzt ihr letztes bisschen Glaubwürdigkeit aufs Spiel. Das könnte gefährliche Konsequenzen haben.
Ausgerechnet Ursula von der Leyen soll Kommissionpräsidentin werden. Nein, Sie haben nichts verpasst, von der Leyen hatte nichts mit dem EU-Wahlkampf zu tun, nicht als Wahlkämpferin, geschweige denn als Kandidatin.
Ihre Nominierung folgt einem jener berüchtigten Brüsseler Hinterzimmer-Deals, wo die Chefs der Mitgliedsstaaten einander so lange aussitzen, bis sie möglichst viele ihrer eigenen, nationalen Interessen durchgesetzt haben. Dabei geht es nicht um Weitblick und auch nicht um den Wählerwillen, sondern um stundenlanges Geschacher mit möglichst wenig Konsequenz.
Die EU hat unrühmliche Bekanntheit erlangt für diese Schmalspurdeals, man erinnere sich nur an die geplatzte EU-Verfassung oder Personalien wie die zu Recht vergessene Außenbeauftragte Catherine Ashton. Das liegt weniger an der EU-Kommission, der zwar gern die Schuld für alle Fehler zugeschoben wird, als viel mehr an den Mitgliedsstaaten, die nach wie vor die wahre Macht in den Händen halten.
Und diese unbedingt behalten wollen. Auch dafür ist die jüngste Personalvolte ein eindrückliches Beispiel.
Mit ihrer Entscheidung zeigen die EU-Chefs klar, was sie vom Wählerwillen halten: nämlich nichts. Ohnehin gilt die EU nicht gerade als Musterbeispiel für Demokratie. Es gibt keine echte Gewaltenteilung und das Parlament hat im Vergleich zu nationalen Parlamenten keine echte Macht. Auch deshalb war das Interesse der Bürger an Europawahlen in der Vergangenheit meist überschaubar.
Um das zu ändern und den Wählern zumindest den Eindruck zu geben, tatsächlich mitbestimmen zu dürfen, wurde bei der vorigen Europawahl 2014 das Prinzip der Spitzenkandidaten zum Kommissionspräsidenten eingeführt. Erstmals gab es so etwas wie einen echten Wahlkampf, erstmals standen sich mit Jean-Claude Juncker und Martin Schulz statt abstrakter Ideen zwei konkrete Kandidaten gegenüber. Zwei starke Kandidaten.
Schon bei der Nominierung der Spitzenkandidaten für die diesjährige Europawahl zeigte sich, dass die Mitgliedsstaaten die Sache diesmal lieber ein paar Nummern kleiner lösen wollten. Manfred Weber und Frans Timmermanns mögen in Brüsseler Kreisen ein hervorragendes Standing haben, die breiten Massen mobilisieren sie nicht.
Das neue Führungspersonal der EU
Für Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen wird es auch eine Heimkehr, wenn sie den Chefposten in der EU übernimmt: Die heute 60-Jährige kam in Brüssel zur Welt und spricht fließend Englisch wie Französisch. Als Tochter des niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht war von der Leyens Leben schon früh von der Politik bestimmt. Ihr Medizinstudium schloss sie 1987 ab, sie bekam sieben Kinder und lebte einige Jahre in Kalifornien, wo ihr Mann Heiko an der Stanford-Universität unterrichtete. In die Politik kam von der Leyen, die als extrem diszipliniert und harte Arbeiterin gilt, erst spät, mit 42 Jahren. Sie wurde 2005 zunächst Familien-, 2009 dann Arbeitsministerin. Ihr jetziges Amt in Berlin übernahm sie 2013. Ihre Amtszeit in der Kommission wären fünf Jahre.
Die Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF), Christine Lagarde, soll die erste Frau an der Spitze der Europäischen Zentralbank (EZB) werden. Die gebürtige Pariserin, die aus bürgerlichen Verhältnissen stammt und in Le Havre aufwuchs, ist es als frühere französische Finanzministerin und Leiterin einer der einflussreichsten internationalen Institutionen gewöhnt, sich Gehör zu verschaffen. Die 63-jährige gilt als durchsetzungsfähig und mit einem kühlen Kopf ausgestattet. Ihre Amtszeit sind acht Jahre.
Neuer Präsident des Europäischen Parlaments wird der Italiener David-Maria Sassoli. Der Sozialdemokrat wurde am Mittwoch in Straßburg mit der nötigen Mehrheit der Abgeordneten für die nächsten zweieinhalb Jahre gewählt. Danach soll ein Christdemokrat das Amt bekommen, möglicherweise der Deutsche Manfred Weber (CSU). Das wird aber erst zum Ende von Sassolis Amtszeit entschieden. Der 63-jährige Journalist aus Florenz sitzt seit zehn Jahren in der europäischen Volksvertretung in Straßburg. Sassoli erinnerte in seiner Antrittsrede an die Grundwerte der EU. Die Europäische Union befinde sich in einem epochalen Wandel, sagte er. Die Grundwerte müssten verteidigt werden - „innerhalb und außerhalb der EU“.
Der amtierende belgische Ministerpräsident Charles Michel der liberalen Partei Mouvement Reformateur (MR) trat im Dezember mit seiner Minderheitsregierung wegen eines drohenden Misstrauensvotums zurück. Seit der Wahl im Mai gelang es dem 43-jährigen nicht, eine neue Regierungskoalition zu bilden. Seitdem ist der studierte Jurist aus dem französischsprachigen Teil Belgiens auf Jobsuche. In seiner Karriere war Michel meist der Jüngste: Er stieg im Alter von 18 Jahren in die Lokalpolitik ein, errang mit 23 einen Sitz im nationalen Parlament und wurde mit 38 Ministerpräsident. Politik liegt in der Familie: Sein Vater Louis war EU-Kommissar für Entwicklung. Die Amtszeit von Charles Michel liegt bei fünf Jahren.
Josep Borrell ist ein spanischer Politiker und Parteifreund des sozialistischen Ministerpräsidenten Pedro Sanchez. Der 72-jährige war von 2004 bis 2007 Präsident des Europäischen Parlaments und bis 2009 einfacher Abgeordneter. Bei der Auseinandersetzung um die Unabhängigkeit Kataloniens war er einer der entschiedensten Verteidiger der Einheit Spaniens. Er studierte an der Universität Madrid Luftfahrttechnik und promovierte später in Wirtschaftswissenschaften. In seiner neuen Rolle wird er auch Vizepräsident der Kommission werden. Seine Amtszeit sind fünf Jahre.
Dennoch wäre es folgerichtig gewesen, einen der Kandidaten, so er denn eine Mehrheit bekommt, zum Kommissionschef zu machen. Es gab ja auch noch die Kandidaten der kleineren Parteien, die das Parlament als Kompromiss hätten vereinen können.
Da wäre vor allem Margrethe Vestager, Spitzenkandidatin der drittstärksten Fraktion, der Liberalen, EU-Kommissarin und nicht mehr ganz heimliche Favoritin vieler EU-Fans, da sie die Interessen der EU so stark vertritt wie kaum ein anderer. Oder im Notfall auch die boomenden Grünen, deren Spitzenkandidatin Ska Keller ihren Hut für das Amt der EU-Parlamentspräsidentin in den Ring geworfen hatte.
Wer auch immer es geworden wäre, er hätte zuvor einen Wahlkampf durchlaufen und wäre zumindest indirekte Folge einer demokratischen Entscheidung. Ursula von der Leyen hingegen hätte auch völlig ohne Europawahl im Hinterzimmer ausgeklüngelt werden können. Die EU-Entscheider haben nicht nur nichts gelernt, sie sind im Vergleich zur vorherigen Wahl sogar mehrere Schritte zurückgegangen.
Was sollen all die Jungwähler davon halten, die einer EU-Wahl erstmals seit Jahren immense Aufmerksamkeit und eine Rekord-Wahlbeteiligung geschenkt haben? Vermutlich wird ihr flammendes Interesse für die EU erlöschen.
Die EU wäre dann wieder Symbol für all das, was sie eigentlich loswerden wollte: Bürokratiemonster, bürgerfern, ja undemokratisch. Und das Schlimme ist: So falsch wäre dieser Eindruck nicht. Hier von eine verpassten Chance zu sprechen, ist noch tiefgestapelt.
Den jungen Generationen, nenne man sie nun Y oder Z, wird oft vorgeworfen, unpolitisch zu sein. Die Europawahl hat gezeigt: Nichts könnte falscher sein. Sollten die Y-ler und Z-ler sich nun enttäuscht von der Politik abwenden, müsste man nicht lange nach dem Schuldigen suchen: Es wären die Politiker selbst.
Die Gesellschaft ist so gespalten wie lange nicht, manch einer zieht gar Parallelen zur Weimarer Republik. Eine neue Politikverdrossenheit ist hier das Letzte, das Europa gebrauchen kann. Doch für solche Überlegungen könnte es nach dem neuesten Hinterzimmer-Deal bereits zu spät sein.
„Ich bin eine glückliche Verteidigungsministerin“