„Vorsichtiger Leitplan“ Die meisten Briten glauben nicht an ein sicheres Lockdown-Ende

Boris Johnson, Premierminister von Großbritannien stellt den Fahrplan für die Lockerung der coronabedingten Beschränkungen vor Quelle: dpa

Boris Johnsons Fahrplan für den Ausstieg aus dem Lockdown: Bis zum Sommer sollen die meisten Beschränkungen aufgehoben werden. Einigen Mitgliedern seiner Partei geht das immer noch nicht schnell genug.

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Die Regierung in London plant, sämtliche coronabedingten Einschränkungen in England bis zum Sommer aufzuheben. Premier Boris Johnson stellte hierfür am Montag einen lange erwarteten, vierstufigen Plan vor, bei dem die Wiederherstellung sozialer Kontakte und die Öffnung von Schulen Vorrang haben wird vor der Öffnung der Wirtschaft.

Vor dem Unterhaus des Parlaments sagte Johnson, es handele sich um einen „vorsichtigen Leitplan“, der aber auch auf eine „Einbahnstraße in die Freiheit“ führen solle. Anders gesagt: Die Lockerungen sollen in einer Weise erfolgen, dass keine erneuten Verschärfungen erforderlich werden. Dass die Lockerungen zu einer Zunahme an Corona-Infektionen führen werde, räumte Johnson ein. Allerdings vertraue er darauf, dass das Gesundheitssystem in der Lage sein werde, diesen Anstieg zu kontrollieren. „Es gibt keinen Weg zu einem Covid-freien Großbritannien oder zu einem Covid-freien Welt“, erklärte der Premierminister.

Jede der geplanten vier Stufen werde sich hierbei an der Effizienz des bisher verwendeten Impfstoffe und der Impfrate orientieren, an der Belastung für das Gesundheitssystem und daran, ob neue Varianten aufträten, die Grund zur Sorge bereiteten. Die Öffnungen würden laut Johnson so gestaffelt, dass Forscher nach jeder Lockerung die Möglichkeit bekämen, die Entwicklungen vier Wochen lang zu beobachten. Weitere Öffnungen würden dann mit einem Vorlauf von einer Woche angekündigt. Die Öffnungen würden sich „an den Daten“ orientieren und „nicht am Datum“, sagte Johnson. Sie sollen von umfangreichen Corona-Tests begleitet werden.

Die erste Stufe der Lockerungen soll am 8. März in Kraft treten. Zu diesen Zeitpunkt sollten die meisten Mitglieder von Risikogruppen, die in den vergangenen Wochen ihre Impfungen erhalten haben, ausreichend Immunität aufgebaut haben, um vor schweren Krankheitsverläufen geschützt zu sein. An diesem Tag sollen sämtliche Schulen und alle Universitätskurse geöffnet werden, die eine Anwesenheit erforderten. Schüler der Oberstufe und Studenten sollen dann aber weiter Masken tragen müssen. Zwei Personen sollen sich im Freien treffen dürfen, etwa auf einen Kaffee. Bewohner von Pflegeheimen sollen eine Person benennen dürfen, die sie – nach einem negativen Corona-Test – besuchen darf.

Ab frühestens dem 29. März sollen sich bis zu sechs Personen oder Mitglieder von zwei Haushalten im Freien treffen dürfen. Sportliche Aktivitäten im Freien sollen wieder erlaubt werden. Arbeit soll nach Möglichkeit jedoch auch dann weiter von zu Hause aus verrichtet werden. Internationale Reisen bleiben weiterhin verboten.

Läuft alles gemäß Plan, sollen frühestens am 12. April nicht-essenzielle Geschäfte, Friseure und Schönheitssalons und öffentliche Gebäude wie Museen und Büchereien geöffnet werden. Pubs und Restaurant sollen im Freien bewirten dürfen. Auch Zoos und Freizeitparks dürfen dann wieder öffnen. Es soll weiterhin nur eingeschränkt Treffen im Freien geben. Fitnessstudios sollen öffnen, aber nur von Einzelpersonen oder Mitgliedern desselben Haushalts besucht werden. Ferienunterkünfte sollen eingeschränkt wieder vermietet werden dürfen. Beerdigungen sollen mit bis zu 30 Personen abgehalten werden dürfen, bei Hochzeiten und Hochzeitsempfängen soll es eine Obergrenze von 15 Personen geben.

Ab dem 17. Mai oder später sollen sich dann bis zu 30 Personen im Freien treffen dürfen. In geschlossenen Räumen sollen sich bis zu sechs Personen oder Mitglieder von zwei Haushalten treffen dürfen. Restaurants und Pubs sollen auch ihre Innenräume öffnen dürfen, und auch Hotels und Kinos sollen wieder geöffnet werden. Frühestens dann sollen auch internationale Urlaubsreisen wieder gestattet werden – sofern es die Lage zulässt.

Und ab frühestens dem 21. Juni sollen sämtliche Beschränkungen aufgehoben werden. Unter anderem Clubs und Konzerthallen sollen wiedereröffnen dürfen. Selbst dann soll es jedoch mindestens eine Zeit lang Abstandsregeln geben, die eingehalten werden müssen. Bis zum Sommer möchte die Regierung auch entscheiden, ob sie Impfbescheinigungen einführen möchte, die es ermöglichen sollen, weitergehende Freiheiten in Anspruch zu nehmen.

Britische Impfkampagne gibt Hoffnung

Die Lockerung möglich macht die außerordentlich erfolgreiche britische Impfkampagne. Bis zum Wochenende haben rund 17,5 Millionen Briten ihre erste Impfdosis erhalten – ein Drittel aller Erwachsenen. Mehr als 600.000 haben bereits ihre zweite Dosis erhalten. Bis Ende Juli sollen alle Erwachsenen eine Impfung angeboten bekommen haben.

Die Zahl der Neuinfektionen liegt dabei derzeit mit rund 10.000 jedoch weiterhin recht hoch. Dass die Regierung dennoch schon jetzt so weitreichende Lockerungen in Aussicht stellt, liegt auch daran, dass sich die Impfungen als ausgesprochen wirksam zu erweisen scheinen. So legen Zahlen aus Schottland nahe, dass die Impfstoffe von Biontech/Pfizer und Oxford/AstraZeneca vier Wochen nach der Gabe der ersten Dosis einen Rückgang bei den Krankenhauseinweisungen in Höhe von 85 und 94 Prozent bewirkt haben. Sprich: Beide Impfstoffe scheinen außerordentlich effizient dabei zu sein, schwere Krankheitsverläufe zu unterbinden. Bei den besonders gefährdeten Über-80-Jährigen ging die Zahl der Krankenhauseinweisungen bei Geimpften in der vierten Woche um mehr als 80 Prozent zurück.

Forscher warnten unterdessen vor verfrühten Lockerungen. Eine Aufhebung sämtlicher Einschränkungen bereits im April könnte zu einer explosiven vierten Welle führen, an deren Ende sich die ohnehin bereits hohe Zahl der Todesopfer in Großbritannien noch einmal verdoppelt könnte, glauben die Wissenschaftler.

Doch genau darauf drängen die erbitterten Lockdown-Gegner in Johnsons Partei. Schon seit Monaten sprechen sich einige libertär gesinnte Tory-Abgeordnete für umfassende Lockerungen aus – ganz gleich, wie viele Menschen dadurch sterben würden. Eine Gruppe von rund 60 Tory-Hinterbänklern hat sich seitdem zu der so genannten „Covid Recovery Group“ zusammengetan, die von den Abgeordneten Mark Harper und Steve Baker angeführt wird. Letzterer spielt auch bei den Brexit-Hardlinern eine führende Rolle. Die Sorge vor der Ausbreitung neuer Covid-Varianten könne kein Grund dafür sein, Einschränkungen aufrecht zu erhalten, sagte Harper.

Die Regierung wird auch daran arbeiten müssen, das Vertrauen der britischen Öffentlichkeit wiederzugewinnen. Einer aktuellen Umfrage zufolge vertraut derzeit weniger als ein Viertel aller Briten darauf, dass Johnson in der Lage ist, die Lockdown-Einschränkungen sicher aufzuheben. Fast ein Drittel der Befragten gab an, der Regierung in dieser Frage nicht zu trauen.

Das überrascht kaum. Denn abgesehen von der erfolgreichen Impfkampagne hat die Regierung in London in Sachen Corona bislang mäßig bis miserabel abgeschnitten. So hat Johnson mehrfach die Warnungen von Experten ignoriert und erst spät Verschärfungen verhängt, als die Zahl der Neuinfektionen bereits stark in die Höhe schoss. Infolgedessen hat das Virus Großbritannien so schwer getroffen wie kaum ein anderes Land. Vor wenigen Wochen verzeichnete das Land sogar die höchste Todesrate der Welt. Die Zahl der Personen, die nach einem positiven Corona-Test gestorben sind, liegt mittlerweile bei über 120.000, was sich auch an den Daten zur Übersterblichkeit ablesen lässt.

Johnsons verpatzte Antworte auf die Pandemie hatte auch zu Folge, dass Großbritannien seine Einschränkungen bisher nur sehr viel später aufheben konnte als andere Staaten. Infolgedessen brach die britische Wirtschaft so stark ein wie in keinem anderen vergleichbaren Industrieland. Der baldigen Öffnungen könnten diesen Einbruch zumindest teilweise umkehren.

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Und auch aus einem anderen Grund mischen sich in diesen Tagen Misstöne in die ansonsten positiven Meldungen: Vor wenigen Tagen urteilte ein Gericht in London, dass die Regierung gesetzwidrig gehandelt hat, als sie im vergangenen Jahr im Zusammenhang mit der Pandemie Aufträge in Milliardenhöhe vergeben hat. In zahlreichen Fällen hat es die Regierung dabei versäumt, Details zu den Aufträgen – die in aller Regel ohne Ausschreibungen vergeben wurden – innerhalb von 30 Tagen publik zu machen. Die Regierung vergab auch Hunderte von Aufträgen an Firmen, die keinerlei Expertise vorweisen konnten. Oft gingen millionenschwere Aufträge an Tory-Parteifreunde, Großspender oder sogar an Nachbarn führender Tory-Politker. Ein Großteil der Briten glaubt daher, dass Korruption im Spiel war.

Mehr zum Thema: Großbritannien feiert den Erfolg seiner Impfkampagne zwar kaum, aber dort läuft die Impfkampagne überaus gut. Warum?

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