Unser Gehirn organisiert Ereignisse in unserem Leben je nach Entfernung in relevante und weniger relevante ein. Wenn die Wohnung unserer Nachbarn überfallen wird, ist das relevanter als ein Überfall irgendwo weit weg. Wenn gute Freunde ihre Jobs verlieren, fühlt sich das näher an als die Jugendarbeitslosigkeit in einigen EU-Staaten. Für die gefühlte Nähe zählt aber nicht nur die räumliche Entfernung, sondern psychologische Faktoren und die zeigen sich bei den Europawahlen überdeutlich.
Die gefühlte Entfernung zu Kandidaten und Parteien der Europawahl nennen Wissenschaftler psychologische Distanz. Die ist dann besonders hoch, wenn eingesetzte Botschaften und ihre Botschafter anonym und schwer greifbar bleiben. Bei den Europawahlen kommt beides zusammen: Die Grünen werben für "ein Europa, in dem niemand untergeht", die SPD will "ein Europa der Chancen" und die CDU wirbt mit "Gemeinsam erfolgreich in Europa".
Es fällt schwer zu fassen, welche konkreten Pläne sich hinter diesen Botschaften verbergen. Aber nicht nur die Botschaften bleiben abstrakt und unverständlich, fast alle Parteien verzichten auf Plakaten und in Werbespots auf die Gesichter ihrer Kandidaten. Zu den unklaren Wahlsprüchen kommen jetzt also quasi-anonyme Kandidaten und die Distanz wächst.
Geschickter Schachzug
Eine Partei zeigt Gesicht: die CDU hat sich für Angela Merkel entschieden. Ein geschickter Schachzug um psychologische Distanz abzubauen? Wenn ja, dann höchstens solange bis Wähler realisieren, dass Angela Merkel gar nicht zur Wahl steht.
Die psychologische Distanz zu Europa ist von Natur aus groß. Das liegt daran, dass es für uns noch immer einfacher ist, Unterschiede zwischen Mitgliedstaaten und deren Kulturen aufzuzählen anstatt zu definieren, was alle Europäer verbindet. Die ohnehin schon große Distanz wächst im Wahlkampf also weiter und das hat Folgen.
Je weiter sich Europa gefühlt von den einzelnen Bürgern entfernt, desto geringer die Chance, dass wir aktiv werden, uns informieren, beteiligen und letztendlich überhaupt wählen gehen. Schwerer Stand für Europa.
Das Problem psychologischer Distanz besteht aber nicht nur in Europas Politik. Auch in Europas Unternehmen beobachten wir ähnliche Effekte. Wir schieben auf, gehen keine Risiken ein und bleiben am Status Quo hängen. Die gefühlte Entfernung zu abstrakten Unternehmenszielen wird zur Innovationsbremse, weil Motivation und Einsatzbereitschaft leiden.
Leistung über das Nötige hinaus zeigen wir nur, wenn wir verstehen, warum sich der Aufwand lohnt. Neue Ideen zu entwickeln ist anstrengend und viele Unternehmen bezahlen die gefühlte Distanz zwischen Mitarbeitern und Unternehmenszielen mit ungenutzten Potenzialen und Ineffizienz.
Ähnlich wie sich die Bürger Europas fragen, was diese Wahl mit ihnen zu tun hat, fragen sich viele Mitarbeiter, was ihre Arbeit für das große Ganzen bedeutet. Für Europa wie für seine Unternehmen gilt es Distanz abzubauen. Drei Maßnahmen können dabei helfen.
Bitte recht einfach
Abstrakt denken. Fortschritt braucht Weitblick und viele gute Ideen entstehen erst mit einem Mindset, das weit in die Zukunft blickt. Bei Google entstand schon früh die Vision die gesamte Welt zu digitalisieren, eine kühne und abstrakte Idee. Earth, Maps und Street View sind Ergebnisse dieser Idee, genau wie der Versuch alle Bücher der Welt zu scannen. Ein abstraktes Mindset macht es möglich Ideen außerhalb gewohnter Denkbahnen zu entwickeln. Wir brauchen dieses Denken für Fortschritt, in der Politik genau wie in Unternehmen. Aber die abstrakte Botschaft reicht noch nicht.
Konkret übersetzen. Erst wenn wir verstehen, was eine Botschaft für uns bedeutet, was sie mit uns zu tun hat, erst dann erzeugt sie einen Mehrwert. Dieser Mehrwert ist in der Botschaft "Kunden begeistern" effektiver als "Offen zur Entscheidung" (Deutsche Telekom), weil wir uns vorstellen können, was wir aktiv unternehmen um bei Kunden Begeisterung auszulösen. Was wir tun müssen um offen zur Entscheidung zu sein, erfordert wesentlich mehr Nachdenken - ähnlich wie "ein Europa der Chancen". Erst wenn zu der abstrakten Botschaft ein konkretes Bild entsteht, verschwindet die psychologische Distanz. Bevor wir vor unserem inneren Auge nicht sehen können, was wir da genau tun, bleiben wir passiv und desinteressiert.
Die Europawahl in Zahlen und Fakten
In den 28 Staaten der Europäischen Union sind rund 400 Millionen Bürger aufgerufen, ihre Stimme abzugeben. Großbritannien und die Niederlande wählen bereits am Donnerstag, 22. Mai, andere an den folgenden drei Tagen. Deutschland wählt wie die meisten anderen EU-Staaten am Sonntag, 25. Mai.
Das neue Parlament wird 751 Abgeordnete haben, derzeit sind es (nach dem Beitritt Kroatiens) 766. Mit 96 Abgeordneten stellt Deutschland die meisten Parlamentarier aller Mitgliedsländer, es folgt Frankreich mit 74. Luxemburg, Estland, Zypern und Malta stellen mit je sechs die wenigsten Abgeordneten.
Derzeit gibt es sieben Fraktionen, nach den Wahlen könnte ein Verbund der Rechtspopulisten hinzukommen. Zur Bildung einer Fraktion sind mindestens 25 Abgeordnete aus 7 EU-Ländern nötig.
Das Parlament hat wichtige Kompetenzen in der EU-Gesetzgebung. Es muss dem jährlichen EU-Haushalt zustimmen. Auch der mehrjährige Finanzrahmen muss von den Abgeordneten gebilligt werden. Vom Wahlergebnis wird erstmals auch abhängen, wer Präsident der EU-Kommission wird. Nötig ist die absolute Mehrheit der Stimmen im Europaparlament, also 376.
Entscheidungen vereinfachen. Botschaften haben besonders dann Überzeugungskraft und bauen Distanz ab, wenn sie uns bei Entscheidungen helfen. Ein gutes Wahlplakat macht das und eine gute Vision macht das auch. "Wir wollen die führende kundenorientierte globale Universalbank sein", formuliert beispielsweise die Deutsche Bank. Angenommen ich weiß als Mitarbeiter, dass heute soviel ansteht, dass ich wahrscheinlich nicht alles schaffe, wie kann mir eine Vision helfen meine Aufgaben zu priorisieren? Führend, kundenorientiert, global und universal sind abstrakte Eigenschaften, weit weg von der Entscheidung, was ich heute zuerst mache. Google hingegen kommuniziert "Es ist am besten eine Sache richtig, richtig gut zu machen" und nimmt mir damit zwar die Entscheidung nicht ab, vereinfacht diese aber enorm. Ich weiß, dass ich lieber eine Sache richtig machen soll und dafür andere nicht. Wenn sich Visionen in konkreten Entscheidungen widerspiegeln, lösen sie Distanz auf.
Europas Unternehmen stehen vor einer Wahl: Sie können psychologische Distanz abbauen und damit Potenzial freisetzen, das heute noch in abstrakten Botschaften und anonymen Prozessen schläft. Oder sie verzichten auf diese Chance.
Die Bürger Europas wählen jetzt, auch ohne konkrete Entscheidungshilfe oder großes Interesse - aber der abstrakten Chance auf ein besseres Europa.