Wählerpsychologie Warum die Europawahl so wenig Menschen begeistert

Bald sollen die Europäer ein neues Parlament wählen, doch viele lässt die Wahl kalt. Wieso? Ein Gastbeitrag.

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Wer in Europa mitreden will
Jean-Claude Juncker Quelle: dapd
Martin Schulz Quelle: dpa
David McAllister Quelle: dpa
Rebecca Harms Die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Europa-Parlament, Rebecca Harms, ist die Spitzenkandidatin der deutschen Grünen für die Wahl zum Europa-Parlament im Mai. Die 57-Jährige setzte sich beim Parteitag der Grünen in Dresden mit 477 Stimmen gegen die weithin unbekannte Europa-Abgeordnete Franziska (Ska) Keller durch, die 248 Stimmen erhielt. Keller hatte ihre Kandidatur für den ersten Platz der deutschen Grünen bekanntgegeben, nachdem die 32-Jährige bei einer Internet-Abstimmung über die Spitzenkandidaten der europäischen Grünen überraschend mehr Stimmen als Harms erhalten hatte. "Mir ist sehr bewusst, dass ich schon weit über 30 bin, aber ich bin immer noch die Gorleben-Aktivistin und ich will immer noch die Welt verändern", schloss Harms ihre Bewerbungsrede unter Anspielung auf die Atomkraftgegner in der Region um das ursprünglich in Gorleben geplante Atommülllager. Quelle: dpa
Bernd Lucke Quelle: REUTERS
Alexander Graf Lambsdorff  Quelle: dpa
Guy Verhofstadt Quelle: REUTERS

Unser Gehirn organisiert Ereignisse in unserem Leben je nach Entfernung in relevante und weniger relevante ein. Wenn die Wohnung unserer Nachbarn überfallen wird, ist das relevanter als ein Überfall irgendwo weit weg. Wenn gute Freunde ihre Jobs verlieren, fühlt sich das näher an als die Jugendarbeitslosigkeit in einigen EU-Staaten. Für die gefühlte Nähe zählt aber nicht nur die räumliche Entfernung, sondern psychologische Faktoren und die zeigen sich bei den Europawahlen überdeutlich.

Die gefühlte Entfernung zu Kandidaten und Parteien der Europawahl nennen Wissenschaftler psychologische Distanz. Die ist dann besonders hoch, wenn eingesetzte Botschaften und ihre Botschafter anonym und schwer greifbar bleiben. Bei den Europawahlen kommt beides zusammen: Die Grünen werben für "ein Europa, in dem niemand untergeht", die SPD will "ein Europa der Chancen" und die CDU wirbt mit "Gemeinsam erfolgreich in Europa".

Es fällt schwer zu fassen, welche konkreten Pläne sich hinter diesen Botschaften verbergen. Aber nicht nur die Botschaften bleiben abstrakt und unverständlich, fast alle Parteien verzichten auf Plakaten und in Werbespots auf die Gesichter ihrer Kandidaten. Zu den unklaren Wahlsprüchen kommen jetzt also quasi-anonyme Kandidaten und die Distanz wächst.

Geschickter Schachzug

Eine Partei zeigt Gesicht: die CDU hat sich für Angela Merkel entschieden. Ein geschickter Schachzug um psychologische Distanz abzubauen? Wenn ja, dann höchstens solange bis Wähler realisieren, dass Angela Merkel gar nicht zur Wahl steht.

Die psychologische Distanz zu Europa ist von Natur aus groß. Das liegt daran, dass es für uns noch immer einfacher ist, Unterschiede zwischen Mitgliedstaaten und deren Kulturen aufzuzählen anstatt zu definieren, was alle Europäer verbindet. Die ohnehin schon große Distanz wächst im Wahlkampf also weiter und das hat Folgen.

Je weiter sich Europa gefühlt von den einzelnen Bürgern entfernt, desto geringer die Chance, dass wir aktiv werden, uns informieren, beteiligen und letztendlich überhaupt wählen gehen. Schwerer Stand für Europa.

Christoph Burkhardt, kognitiver Wirtschaftspsychologe an der LMU München. (zum Vergrößern bitte anklicken) Quelle: Presse


Das Problem psychologischer Distanz besteht aber nicht nur in Europas Politik. Auch in Europas Unternehmen beobachten wir ähnliche Effekte. Wir schieben auf, gehen keine Risiken ein und bleiben am Status Quo hängen. Die gefühlte Entfernung zu abstrakten Unternehmenszielen wird zur Innovationsbremse, weil Motivation und Einsatzbereitschaft leiden.

Leistung über das Nötige hinaus zeigen wir nur, wenn wir verstehen, warum sich der Aufwand lohnt. Neue Ideen zu entwickeln ist anstrengend und viele Unternehmen bezahlen die gefühlte Distanz zwischen Mitarbeitern und Unternehmenszielen mit ungenutzten Potenzialen und Ineffizienz.

Ähnlich wie sich die Bürger Europas fragen, was diese Wahl mit ihnen zu tun hat, fragen sich viele Mitarbeiter, was ihre Arbeit für das große Ganzen bedeutet. Für Europa wie für seine Unternehmen gilt es Distanz abzubauen. Drei Maßnahmen können dabei helfen.

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