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Wahlprogramm der Tories Johnsons fadenscheinige Versprechen

Boris Johnson präsentiert das Tory-Wahlprogramm. Quelle: REUTERS

Großbritanniens Premier verspricht den Briten in seinem Wahlprogramm alles Erdenkliche: Einen baldigen Brexit, mehr Geld für die öffentlichen Dienste und weniger Einwanderer. Mit der Wahrheit nimmt er es nicht so genau.

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Boris Johnson macht den Briten derzeit zahlreiche Versprechen. Allen voran: ein baldiger EU-Austritt. „Get Brexit Done“ – Setzen wir den Brexit um. So steht es auf der Titelseite des gerade einmal 59 Seiten langen Tory-Wahlprogramms, das Johnson am Sonntag vorgestellt hat.

Schon seit Wochen reist der Premier mit dem charakteristischen blonden Wuschelkopf durch das Land und wirbt dafür, das leidige Brexit-Thema endlich ein für alle Mal abzuhaken. Seine Botschaft: Man müsse den Brexit-Deal, auf den er sich mit Brüssel verständigt hat, nur noch kurz „in den Ofen schieben“. Dann wäre der EU-Austritt ganz schnell abgehakt und das Land könne sich anderen wichtigen Fragen zuwenden. Im Brexit-müden Großbritannien kommt diese Botschaft bei vielen Wählerinnen und Wählern gut an.

Nur hat sie leider wenig mit der Realität zu tun.

Bei seinen öffentlichen Auftritten verschweigt Johnson, dass die eigentlichen Brexit-Verhandlungen, bei denen es um die zukünftigen Beziehungen geht, noch nicht einmal begonnen haben. Zwar wiederholt er diese Unwahrheit im Wahlprogramm nicht explizit. Trotzdem soll alles ganz schnell gehen: Großbritannien und die EU sollen sich im kommenden Jahr auf ein Handelsabkommen verständigen. Länger als bis zum Ende der geplanten Übergangszeit Ende 2020 solle es auf keinen Fall dauern.

Auch das strotzt vor Optimismus. Die Verhandlungen über Handelsabkommen ziehen sich in aller Regel über Jahre hin. Zudem plant London, bereits während der Verhandlungen mit der EU schon Gespräche mit anderen Ländern zu führen. Das dürfte weitere Probleme mit sich bringen: Zahlreiche Forderungen, die beispielsweise Washington an Großbritannien richten könnte, dürften inkompatibel mit Vorbedingungen der EU sein. Sollte Johnson an seiner Forderung festhalten, dass alles bis Ende 2020 erledigt sein müsse, könnte das Land wieder auf einen ungeordneten Brexit zusteuern.

Johnson erkennt in seinem Programm die wachsende Ablehnung der Briten gegen den drastischen Austeritätskurs an, den die Tories 2010 in Gang gesetzt haben. Doch auch bei einigen der politischen Maßnahmen, die Johnson in diesem Zusammenhang vorschlägt, scheint er es mit der Wahrheit nicht allzu genau zu nehmen.

Von den zusätzlichen 350 Millionen Pfund pro Woche, die Johnson den Briten bekanntermaßen vor dem EU-Referendum für den Gesundheitsdienst NHS versprochen hat, ist in dem Wahlprogramm keine Rede mehr. Aber Johnson verspricht nun unter anderem, in den kommenden Jahren 40 neue Krankenhäuser zu bauen und 50.000 neue Krankenschwestern und -Pfleger anzuheuern. Von der ersten Versprechen bleibt allerdings nicht viel übrig, wenn man genauer hinschaut: So musste die Regierung kürzlich einräumen, dass bis 2025 allenfalls sechs bestehende Krankenhäuser „modernisiert“ werden könnten. Und 19.000 der angeblich anzuheuernden 50.000 Krankenschwestern sollen lediglich „im Job gehalten“ werden. Sprich: Es handelt sich bei ihnen um Krankenschwestern, die ihren Job in den kommenden Jahren verlassen hätten. Wie genau die Regierung das bewerkstelligen will, erklärte sie nicht.

Unklare Einwanderungspolitik

Johnson stellt für die Zeit nach dem Brexit ein Punkte-basiertes Einwanderungssystem nach dem Vorbild Australiens in Aussicht. Die meisten einreisewilligen Ausländer sollen belegen, dass sie ein Jobangebot haben, bevor sie ins Land kommen. Dabei soll die Zahl der niedrig qualifizierten Einwanderer und die Gesamtzahl der Einwanderer gesenkt werden. Hochqualifizierte Ausländer und vielversprechender Nachwuchs sollen hingegen angeworben werden.

Damit versucht Johnson offenbar, dem Rechtspopulisten Nigel Farage das Wasser abzugraben. Denn Farage und einige rechte Tory-Politiker beschwören das australische Modell bereits seit Jahren. Doch es ist fraglich, wie die britische Wirtschaft ohne die vielen europäischen Arbeiter auskommen soll, die in vielen Sektoren unverzichtbar geworden sind. Schon in diesem Jahr mussten britische Bauern unzählige Tonnen Obst und Gemüse auf ihren Feldern verrotten lassen, weil es zu wenige Saisonarbeiter aus der EU gab, die den Job hätten machen können.

Johnsons Wahlprogramm ist das erste Dokument dieser Art seit 2010, das keine weiteren Einschnitte bei den staatlichen Ausgaben vorsieht. Damit reagiert Johnson auf die Stimmung im Land: Denn bereits im vergangenen Jahr kam eine Studie zu dem Schluss, dass sich 60 Prozent der Briten höhere Steuern und Staatsausgaben wünschten – so viele, wie seit 15 Jahren nicht. Nur vier Prozent favorisierten eine Fortsetzung der Einschnitte, die viele öffentliche Dienste und Kommunen an den Rand des Zusammenbruchs gebracht haben.

Doch ein wirkliches Ende der Austerität zeichnet sich in dem Wahlprogramm nicht ab. Denn das Dokument schließt Steuererhöhungen kategorisch aus und sieht eine Erhöhung der öffentlichen Ausgaben von gerade einmal 2,9 Milliarden Pfund vor. Zum Vergleich: Die oppositionelle Labour-Partei hat in ihrem kürzlich veröffentlichten Wahlprogramm eine Erhöhung der Staatsausgaben in Höhe von 94,5 Milliarden Pfund in Aussicht gestellt. Was zunächst nach einer Unsumme klingt, würde die britischen Staatsausgaben lediglich auf ein ähnliches Niveau wie das deutsche bringen.

Gemäß Johnson Plänen würden die vor Geldnot ächzenden öffentlichen Dienste (außer dem Gesundheitssystem) selbst im Steuerjahr 2023-24 real 15 Prozent weniger an Mitteln zur Verfügung haben als vor dem Beginn des Sparkurses 2010. Johnson geht zumindest insofern auf die Stimmung im Land ein, dass er von weiteren Steuersenkungen für Unternehmen und Gutverdiener (die mit den drastischen Kürzungen bei den öffentlichen Diensten einhergegangen sind) fürs Erste absieht.

Die große Angst vor dem May-Effekt

Das erstaunlich dünne und an Inhalten arme Dokument verdeutlich vor allem Eines: Bei den Tories gab es ganz offensichtlich die große Sorge, dass sich die Schlappe bei den vorgezogenen Neuwahlen 2017 wiederholen könnte. Damals hatte die damalige Premierministerin Theresa May in ihrem Wahlprogramm äußerst kontroverse zusätzliche Kürzungen in Aussicht gestellt, die offenbar nicht mit ihrem Kabinett abgesprochen waren.

Die Folge: Bei den anschließenden Wahlen verloren die Tories ihre Mehrheit im Unterhaus konnten sich seitdem nur mit den Stimmen einer nordirischen Regionalpartei über Wasser halten. Daher wollte Johnson offenbar kein Risiko eingehen.

von Sascha Zastiral

Seine vollmundigen Versprechen könnten sich dennoch rächen. Paul Johnson, Direktor des Thinktanks Institute for Fiscal Studies (IFS), bezeichnete den Mangel an Inhalten im Tory-Wahlprogramm als „bemerkenswert“ und einige der Grundannahmen als falsch. Das Wahlprogramm solle offenbar den Eindruck vermitteln, „dass wir die öffentlichen Dienste haben können, die wir möchten, mit mehr Geld für Gesundheit, Renten und Schulen – ohne dafür zu bezahlen. Das können wir nicht.“

Und auch Wirtschaftsvertreter reagierten auf das Wahlprogramm eher verhalten. Adam Marshall, Generaldirektor der British Chambers of Commerce (BCC) sagte, das Programm schlage in einigen Punkten „den richtigen Ton an“. Aber Unternehmen wünschten sich „substanziellere Maßnahmen, um Wachstum, Unternehmen und Investitionen voranzutreiben“. Josh Hardie von der Confederation of British Industry (CBI) erklärte, der Ausblick für die Wirtschaft werde weiter von Sorgen überschattet, wonach das Land die EU im kommenden Jahr ohne ein Abkommen verlassen könnte. Ein „auf das Nötigste herunter gebrochener Brexit-Deal“ würde den wirtschaftlichen Fortschritt „eine Generation lang ausbremsen“.

Edwin Morgan vom Institute of Directors (IoD) sagte: „Wenn es um den Brexit geht, werden Unternehmen erst dann das Gefühl haben, dass er ‚erledigt‘ ist, wenn sie die Bedingungen der neuen Beziehungen zur EU kennen, nicht vorher.“ Die Regierung müsse „die Bedürfnisse der Wirtschaft bei Verhandlungen über Fragen des Handels und des Marktzuganges“ in den Vordergrund stellen.

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