Welche Technologie ist nachhaltig? Der Streit um die Taxonomie verkennt das wahre Problem

Der heftige Streit, ob Gas als nachhaltig gelten darf, ist ein legalistisches Scheingefecht – geht aber am eigentlichen Problem vorbei. Quelle: Imago

Die Aufregung ist groß, weil die EU-Kommission Erdgas als nachhaltig einstuft. Am Mittwoch hat sie das Regelwerk dafür noch einmal deutlich laxer gemacht. Das Kernproblem der Taxonomie ist aber ein ganz anderes. Ein Kommentar.

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Es dauerte nur Minuten, bis die Empörung sich bahnbrach: „Selbstgerechtes Greenwashing“ sei das, twitterte Luisa Neubauer, deutsche Spitze von Fridays For Future. „Ich bin gerade so sauer, dass ich ihnen noch nicht im Detail antworten kann“, schrieb mir eine EU-Parlamentarierin. Kurz davor hatte die EU-Kommission den endgültigen Entwurf für ihre Taxonomie publiziert. Die regelt, welche Technologien als nachhaltig gelten. Das ist vor allem für das boomende Segment nachhaltiger Fonds wichtig: Sie können nun nicht nur Wind- und Solarkraft, sondern auch neue Atom- und Gaskraftwerke finanzieren, wenn diese Kohlekraftwerke ersetzen.

Was die Kritiker besonders erzürnt: Die EU hat das Regelwerk am Mittwoch noch einmal deutlich laxer gemacht. Der bisherige Entwurf hatte das grüne Label an die Bedingung geknüpft: Gaskraftwerke dürfen in die Taxonomie, wenn sie künftig auch mit klimaneutralem, „grünem“ Wasserstoff (H2) statt mit Erdgas laufen. Das sollte in Stufen passieren: Ab 2026 sollten sie 30 Prozent, ab 2030 dann 55 Prozent grünen Wasserstoff verheizen. Die Industrie lobbyierte dagegen heftig, hält vor allem die erste Stufe in so knapper Zeit für nicht machbar. Mit Erfolg: Die Stufen sind raus aus dem Entwurf, stattdessen sollen die Gaskraftwerke erst 2035 mit Wasserstoff laufen – dann aber gleich mit 100 Prozent.

Darüber, ob das Pragmatismus ist, oder Greenwashing, wird es weiter zwei Meinungen geben. Aber der heftige Streit – Österreich will sogar klagen – ist ein legalistisches Scheingefecht, mit Feuereifer geführt von beiden Seiten, aber an der Realität vorbei. Denn die benötigten Wasserstoff-Mengen gibt es nicht ansatzweise. Nicht 2026, nicht 2030 und bis 2035 müsste ein Wunder geschehen. Die Politik verschiebt ein Problem um fünf Jahre in die Zukunft – und legt die Latte dafür umso höher. Das ist symptomatisch für Klimaschutzmaßahmen, sobald es konkret wird.

Werden wir also konkret: Derzeit gibt es von den zur Erzeugung grünen Wasserstoffs nötigen Elektrolyseuren 250 Megawatt weltweit. Liefen sie rund um die Uhr, was sie nicht tun, würden daraus gerade mal 2,19 Terawattstunden Wasserstoffenergie. Weltweit. Ein einziges Gaskraftwerk verfeuert pro Jahr etwa 200.000 Tonnen Wasserstoff. Das sind fast sieben Terawattstunden Energie. Zwar sehen die Pläne für den Ausbau der Elektrolyse-Kapazitäten einen exponentiellen Anstieg vor, 2030 sollen es in Deutschland zehn Gigawatt sein, also das 40-Fache der heute globalen Kapazität. Aber selbst das würde nicht reichen, und es sind eben bloß eines: Pläne.

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