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Die Angst vor dem harten Brexit

Die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen drohen zu scheitern. Wo die Europäische Union den Briten jetzt entgegenkommen sollte.

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In der langen Geschichte des Brexits gab es immer wieder das gleiche Verhandlungsmuster: Die EU glaubte, Großbritannien werde nicht auf bestimmte Vorteile enger Beziehungen verzichten wollen – die Briten taten es aber doch. Jetzt, wo kein Abkommen greifbar und der Bruch zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU nur noch ein halbes Jahr entfernt ist, sollte die EU nicht wieder falsche Erwartungen hegen. Besser wäre es, die Schäden durch ein pragmatisches Vorgehen zu begrenzen.

Blicken wir zurück. Schon vor dem Austrittsreferendum hatte die EU dem damaligen Premierminister Cameron wenig zugestanden, um seine Landsleute vom EU-Verbleib zu überzeugen. Die Briten wollten vor allem die Zuwanderung von EU-Arbeitskräften begrenzen, doch die EU bewegte sich nicht wirklich. Dabei wäre das Zugeständnis einer Obergrenze oder eines Sicherheitsventils weniger gravierend gewesen als die Konsequenzen eines Brexits.

Nach dem Referendum setzte die EU durch, zunächst ein Scheidungsabkommen zu vereinbaren, bevor über die künftigen Beziehungen gesprochen wird. Brüssel wollte erst die finanziellen Verbindlichkeiten feststellen, damit London sie nicht als Verhandlungsmasse nutzt. Über die Zeit zeigte sich aber, dass beide Partner wenigstens Grundzüge künftiger Beziehungen kennen mussten, um sich etwa über die Nordirlandfrage zu einigen.

Daher fügten sie dem im Oktober 2019 ausgehandelten Austrittsabkommen eine politische Erklärung hinzu. Diese legt fest, dass die künftige Zusammenarbeit nicht über ein klassisches Freihandelsabkommen hinausgeht. Trotz der hohen ökonomischen Kosten einer derart beschränkten Zusammenarbeit erhielt Premierminister Johnson bei den Wahlen die größte Mehrheit im Unterhaus seit den Achtzigerjahren. Sein Mandat definiert er nun breiter, als es sich aus dem Referendum von 2016 ableiten lässt. Neben einer Zollunion schließt Großbritannien auch die Überwachung des Abkommens durch den Europäischen Gerichtshof aus. Damit verlässt London komplett den handelspolitischen Orbit der EU.

Vorbild Kanada?

Das macht die Gespräche über die künftigen Beziehungen extrem schwierig. Den Briten scheint ein Abkommen zu reichen, so wie es die EU mit Kanada abgeschlossen hat: ein weitgehender Verzicht auf Zölle und eine punktuelle regulatorische Kooperation, aber keine Überwachung durch den EuGH, dazu Souveränität beim Handel mit Dienstleistungen, dem Kapitalverkehr und der Arbeitsmigration.

Die EU lehnt das ab. Denn aus Kanada stammt nur ein Prozent der Güterimporte der EU, aus dem Vereinigten Königreich hingegen zehn Prozent. Der Zugang zum Binnenmarkt ist also wertvoller für die Briten, die deshalb – so die Logik Brüssels – mehr Zugeständnisse machen sollten als die Kanadier. Zudem birgt das größere Handelsvolumen ein höheres Risiko, dass die Briten EU-Standards unterbieten.

An beiden Punkten ist etwas dran.

Doch der Versuch, die Binnenmarktregeln quasi extraterritorial geltend zu machen, würde in der britischen Öffentlichkeit auf massiven Widerstand stoßen. Und er würde Johnsons Position stützen, zumal Großbritannien nach dem Austritt keinerlei Mitbestimmungsrechte mehr hat.

Die EU sollte daher andere Wege gehen. Sinnvoll wäre zum Beispiel ein Deal, wonach das Vereinigte Königreich nicht hinter den heutigen Stand der EU-Regulierung zurückfallen darf. Andernfalls könnte die EU Zölle oder andere Hürden einführen. Großbritannien hingegen auf künftige EU-Regeln zu verpflichten, an deren Zustandekommen das Land nicht mitwirken darf, ist ein unrealistisches Vorhaben.

Angesichts des hohen Handelsvolumens gibt es noch einen anderen wichtigen Ansatzpunkt: die sogenannten Ursprungsregeln. Diese legen fest, wann ein Gut als britisch klassifiziert wird und von den Vorteilen eines Freihandelsabkommens profitieren kann. Ohne Zollunion werden sich die britischen Zölle gegenüber Drittstaaten von den europäischen Zöllen unterscheiden. Damit sind wie in jedem Freihandelsabkommen (und anders als in einer Zollunion) die Herkunftsregeln entscheidend.

Oft sind diese allerdings bürokratisch und protektionistisch, weshalb viele Exporteure freiwillig auf Zollvorteile verzichten. Zudem ist laut aktuellen Forschungsergebnissen ein Ursprungsnachweis oft unnötig, weil es sich nicht rechnet, Güter aus Drittstaaten durch das Vereinigte Königreich zu schleusen, um sie zollfrei in die EU zu liefern. Nur bei wenigen Produkten, bei denen die Außenzölle der Partner weit auseinanderliegen, ist das profitabel.

Daher sollte Brüssel auf strikte Ursprungsnachweise verzichten und sie nur für Güter verlangen, bei denen die Umgehung des EU-Zollschutzes handelsverzerrend wirken kann. Das betrifft vor allem Agrargüter, potenziell auch Autos. Ein entspannter Umgang mit Ursprungsregeln würde wegen des Exportüberschusses vor allem EU-Firmen helfen. Und die Briten würde der weitgehende Verzicht auf Ursprungszeugnisse im EU-Handel aus Eigeninteresse veranlassen, eine maximale Übereinstimmung ihrer Außenhandelspolitik mit der europäischen zu suchen.

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