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Vor dem EU-Gipfel vergangene Woche sprach Ratspräsident Charles Michel von „strategischer Autonomie“ als wichtigstem Ziel Europas in den kommenden Jahren. Quelle: imago images

Europas falsche Sehnsucht nach Autarkie

Die Coronakrise hat die Diskussion belebt, ob wir in Europa zu abhängig von Produktlieferungen sind. Doch wer nun auf Eigenproduktion und Eingriffe in die Lieferketten setzt, betreibt nicht die beste Krisenvorsorge.

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Europa sucht die Autarkie. Das Fehlen medizinischer Ausrüstung zu Beginn der Coronapandemie war ein Schreck. Schon davor sorgte die wirtschaftliche Abhängigkeit von einem immer machtbewusster auftretenden China und einem unter Trump irrlichternden Amerika für Unbehagen. Nun fordern immer mehr Politiker und Verbandsvertreter in Brüssel, Paris und auch Berlin, Europa solle seine eigenen „Champions“ – oder zumindest zuverlässige Lieferanten – in kritischen Branchen schaffen und unabhängig werden von den unsicheren Importmärkten. Vor dem EU-Gipfel vergangene Woche sprach Ratspräsident Charles Michel von „strategischer Autonomie“ als wichtigstem Ziel Europas in den kommenden Jahren. Prominente Unterstützung erhält er vor allem von Frankreichs Präsident Macron, der in den europäischen Hauptstädten für einen Autarkie-Kurs trommelt, um von den USA und China unabhängiger zu werden. Doch sie zücken dabei Rezepte einer schon früher gescheiterten Industriepolitik, die eher kontraproduktiv wirken, wenn es um die Widerstandfähigkeit europäischer Lieferketten geht.

Es gibt bessere Wege.

Ein Grundproblem des politischen Reaktionsmusters ist schon, dass es sich erst einmal auf die Vorsorge für Krisen der Vergangenheit fokussiert. Natürlich sollte man aus der Coronakrise Schlüsse ziehen und die Pandemievorsorge verbessern. Doch wer sich jetzt vor allem um die Produktion von Infektionsschutzprodukten oder Medikamenten in Europa sorgt, verkennt, dass die nächste Krise voraussichtlich eine andere unwahrscheinliche Ursache hat. Zumindest das kann ein Blick in die Vergangenheit lehren.

Schaut auf die Schwarzen Schwäne

Es sind eben genau die „Schwarzen Schwäne“, die eine vorausschauende Wirtschaftspolitik bedenken sollte: seltene, vielleicht völlig unerwartete Ereignisse, die eine Gesellschaft und ein Wirtschaftssystem unzureichend vorbereitet ereilen und große Wirkung entfalten. Solchen unvorhersehbaren Ereignissen kann man nicht mit planwirtschaftlicher Industriepolitik begegnen. Was wäre, wenn Europa sich seine Lieferanten auf dem eigenen Kontinent züchtet, die nächste Krise aber eine regionale ist, die vor allem Europa betrifft? Kein unwahrscheinliches Szenario, wenn man auf die europäischen Krisen der vergangenen Jahre schaut. Auch Naturkatastrophen sind denkbar. Wenn plötzlich hiesige Lieferanten ausfallen, würden uns die Lieferbeziehungen nach Amerika oder Asien fehlen. Die politische Planung von europäischen Produktionsstrukturen auf Basis heutigen Wissens wird uns nicht jene Ergebnisse liefern, die uns in einer unbekannten Zukunft Krisen behaglich aussitzen lassen.

Was ein nach Autarkie strebendes Europa außerdem fürchten sollte: Nachahmer. Verhalten sich andere Länder oder Regionen ebenso, schrumpfen Europas Exportmöglichkeiten. Und am Beispiel Coronapandemie kann man gut erahnen, was das bedeuten würde. China mag der weltweit größte Lieferant von Cent-Produkten wie Gesichtsmasken sein, doch der weltweit größte Exporteur von Produkten, die in der Coronapandemie helfen ist: Europa! Unter den weltweit 20 größten Exportländer solcher Produkte sind zehn EU-Länder; die EU hat einen Exportüberschuss mit dem Rest der Welt. Sagen nun andere Länder auch, wir produzieren medizinische Produkte lieber im eigenen Land, gehört Europa zu den großen Verlierern.

Widerstandskraft statt Autarkie

Statt Autarkie muss deshalb Resilienz das Leitmotiv sein: Lieferketten so gestalten, dass sie in verschiedenen Krisenszenarien widerstandsfähig sind. Es ist wissenschaftlich gut belegt, dass Volkswirtschaften, die viele Handelsbeziehungen haben, sich nach Naturkatastrophen schneller erholen als geschlossene. Theoretisch bringt die Offenheit für Handel und die Spezialisierung der einzelnen Volkswirtschaften auf bestimmte Güter in Krisenfällen auch Nachteile, nämlich dann, wenn Krisen bestimmte Branchen treffen, auf die ein Land spezialisiert ist. Empirisch betreffen aber ökonomische Schocks meistens ganze Länder und seltener ganze Branchen.

Im Krisenfall ist es wichtig, ein besonders breites Netz möglicher Lieferanten zu haben, damit bei einem Ausfall an einer Stelle andere einspringen können. Die gute Nachricht: Die EU-Länder verfügen bislang über ein solch breites Netz. 91 Prozent aller Importprodukte werden jeweils aus mindestens zehn verschiedenen Ländern bezogen. Wertmäßig machen diese Produkte sogar über 99 Prozent aller Importwaren der EU aus. Nur 80 von rund 5000 betrachteten Produkten in der Handelsstatistik bezieht die EU aus jeweils ein bis drei Lieferländern. Dazu gehören einige seltene Rohstoffe wie Uranerz, Thallium und Barium, sehr spezielle Chemikalien wie Anthrachinon oder volkswirtschaftlich wenig relevante landwirtschaftliche Produkte wie lebende Ziegen.

Indexiert man die Abhängigkeit von Bezugsländern, sieht man, dass der so genannte Herfindahl-Index über die vergangenen zwei Jahrzehnte für die EU relativ konstant geblieben ist. Im Gegensatz dazu, hat sich für China die Konzentration auf bestimmte Lieferanten verringert, was die zunehmende Einbindung in die Weltwirtschaft seit dem WTO-Beitritt widerspiegelt. Die US-Wirtschaft hat sich hingegen in den vergangenen Jahrzehnten stärker auf eine kleine Zahl von Lieferanten fokussiert – unter anderem aus China – was ihre Anfälligkeit tendenziell erhöht.

Anreize setzen statt Autarkie fördern

Aber nun kam und kommt es ja in Europa – trotz aller Diversifikation der Lieferketten – immer wieder zu Lieferengpässen, die die Politik umtreiben. Beispielhaft steht dafür die Diskussion über fehlende Medikamente. Wie kann die Liefersicherheit erhöht werden, ohne dass Europa auf potenziell schädliche direkte Eingriffe in Lieferketten und auf Eigenproduktion setzt?
Die beste Absicherung, die Europa hat, ist der gemeinsame Binnenmarkt, der bei Krisen in einzelnen Ländern Versorgungssicherheit bieten kann. Länder – darunter Deutschland – die zu Beginn der Coronakrise den Export von Gesundheitsgütern in andere EU-Länder unterbanden, haben diesem Sicherungsmechanismus allerdings einen Bärendienst erwiesen. Verankert sich dieser Egoismus im Krisenfall im europäischen Bewusstsein, verlieren alle.

Bei kritischen Gütern wie Medikamenten oder Sicherheitsausrüstung können entsprechende Anreize die Liefersicherheit erhöhen. Der Staat sorgt in seinen eigenen Beschaffungsverfahren und im ohnehin von ihm stark regulierten Gesundheitssektor dafür, dass Lieferfähigkeit honoriert und -ausfälle sanktioniert werden. So kann sichergestellt werden, dass sich die zuverlässigsten Lieferanten im Wettbewerb durchsetzen. Das Instrumentarium der Kreditbürgschaften für Exporte (Hermesdeckungen) könnte auch für Importe genutzt werden, um im Krisenfall eine weitere Belieferung abzusichern. Handelsabkommen sind ein weiteres Instrument, das Liefersicherheit verbessern kann. Dabei muss darauf geachtet werden, dass Importe nicht von bürokratischen Ursprungsregeln unnötig erschwert werden. Das Abkommen der EU mit Korea hat flexible Lösungen für dieses Problem gefunden. Dagegen kann das aktuell in Deutschland diskutierte Lieferkettengesetz für die Liefersicherheit kontraproduktiv wirken, falls es übermäßig ambitionierte Regeln für Importe festlegt.



In einigen Produktkategorien, wie seltenen Rohmaterialien, kann die Diversifikation von Lieferketten unmöglich oder übermäßig teuer sein. Dieser Abhängigkeit können Länder zum Beispiel begegnen, indem sie staatliche Anreize und Strukturen für die Wiederverwertung schaffen, also einen zirkulären Wirtschaftskreislauf fördern. Außerdem sind steuerliche Anreize für eine erhöhte Lagerhaltung denkbar. Die EU könnte gemeinsam strategische Reserven für solche Güter anlegen, wie es auf Länderebene etwa schon mit Öl geschieht. Schließlich ist die Handelsdiplomatie, die strategische Partnerschaften mit wichtigen Lieferländern aufbaut, ein geeignetes Mittel, um Sicherheit zu schaffen. In der Coronakrise hat sich etwa gezeigt, dass Maskenlieferungen aus China vor allem in jenen Weltregionen schnell ankamen, die schon vorher enge Beziehung zu chinesischen Provinzen unterhielten.

Diversifizierte Handelsbeziehungen sind also die bessere Alternative zu Eigenproduktion oder staatlichen Eingriffen in Lieferketten, wenn ein Land mehr Liefersicherheit in Krisenfällen erreichen will. Aber man sollte sich keine Illusionen machen: Auch eine breit angelegte Handelspolitik bietet keine volle Absicherung gegen Lieferausfälle – vor allem dann nicht, wenn eine Krise viele Länder synchron trifft. Auch der Aufbau von Lagern für Notfälle hat seine Grenzen, weil er teuer und verschwenderisch sein kann und für eine konkrete Krise vielleicht gerade die falschen Güter eingelagert wurden.


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Man kann es auch so sehen, dass der Mangel an Schutzausrüstung wie Masken zu Beginn der Coronakrise eine lehrbuchhafte Marktreaktion ausgelöst hat: Die Preise schossen in die Höhe, und in der Reaktion stiegen viele Unternehmen in die Maskenproduktion ein. Relativ schnell wurde der Mangel weitgehend behoben. Solche Marktkräfte sollte man nicht ausbremsen.

Ein Staat kann nicht für jede seltene Krisensituation vorbauen und nicht alle Lieferketten absichern. Wer aber meint, man müsse kritische Güter nur alle im eigenen Land produzieren, wiegt sich in falscher Sicherheit.

Mehr zum Thema: Europa will Macht lernen – wie das gelingen kann.

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