Wenn es so käme, hätte sich die Fraktion rund um Viktor Orban durchgesetzt. Der ungarische Premierminister will, dass die einzelnen europäischen Länder ihre Grenzen dicht machen und befestigen – mit Ausnahme Griechenlands wohlgemerkt. Da es sich kaum verhindern lässt, dass Flüchtlinge sich über die Ägäis in Richtung griechische Inseln aufmachen, sollen die Flüchtlinge eben in Griechenland gestoppt werden. Was das bedeutet, konnte die Weltgemeinschaft in Idomeni verfolgen, dem mittlerweile geräumten Flüchtlingslager im Norden Griechenlands an der Grenze zu Mazedonien. Wochenlang harrten dort zigtausende Flüchtlinge aus, um in den Norden weiterzureisen. Doch die Passage in ihr gewünschtes Aufnahmeland Deutschland blieb ihnen mit Stacheldraht und Zäunen verwehrt. Aktuell sind knapp 60.000 Flüchtlinge in griechischen Auffanglagern, sogenannten Hotspots, untergebracht.
Die EU-Kommission setzt auf den Abschreckungseffekt, der sich durch Idomeni aufgebaut hat. Selbst wenn der Türkei-Deal platzt, sollte der Flüchtlingsstrom nicht wieder zunehmen, schließlich sind Europas Grenzen hinter Griechenland dicht – so das Kalkül. Ob Flüchtlinge und Migranten aber wirklich darauf verzichten, nach Europa zu reisen, weil sie möglicherweise an einer Grenze gestoppt werden, ist fraglich. Wer erstmal in der EU ist, hofft weiterzukommen.
Gerald Knaus glaubt, dass sich die Flüchtlingskrise erst dann nachhaltig beruhigen wird, wenn die Europäer ein zentrales Versprechen einhalten und eine „neue Phase einleiten“. Im Türkei-Deal hatten die Europäer zugesichert, Flüchtlinge aus der Türkei direkt zu sich zu holen. Schon vor einem Jahr wurde das in Deutschland diskutiert. Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) hatte damals gesagt, Deutschland könne bis zu eine halbe Million Mensch ins Land holen. Danach wuchsen die Probleme und die Debatte über solche festen Kontingente verebbte.
Wie wirkt der Ausnahmezustand in der Türkei über die Grenzen hinaus?
Zehntausende Soldaten und Staatsdiener sind in der Türkei bereits entlassen oder verhaftet worden. Jetzt ist der Ausnahmezustand auch offiziell verkündet. Die Situation nach dem gescheiterten Putschversuch könnte auch hierzulande spürbar werden.
Die Bundesregierung beobachtet die Vorgänge in der Türkei mit zunehmender Besorgnis. Das rigorose Vorgehen der türkischen Regierung nach dem gescheiterten Putschversuch „übersteigt eine angemessene und verhältnismäßige Antwort“, sagte Innenminister Thomas de Maizière am Donnerstag. Eine Fluchtbewegung von Oppositionellen gibt es zwar noch nicht, das kann sich aber ändern.
Quelle: dpa
Jeder, der sich politisch verfolgt fühlt, kann Asyl in Deutschland beantragen. Die Zahl der asylsuchenden Türken war bisher relativ gering. Im ersten Quartal 2016 gingen bei den Behörden gerade mal 456 Anträge ein. Das ist Platz 20 in der Rangliste der Herkunftsländer. Die Anerkennungsquote lag im vergangenen Jahr bei 1,9 Prozent und damit höher als der Durchschnitt aller Länder von 0,7 Prozent.
Das mag sein, generell kann man das aber nicht sagen. Letztlich kommt es auf den Einzelfall an - zum Beispiel ob jemand nachweisen kann, dass Freunde oder Verwandte bereits verhaftet worden sind. Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl geht davon aus, dass die Behörden in Deutschland angesichts der unübersichtlichen Lage in der Türkei Entscheidungen über Asylanträge von dort zunächst zurückstellen. Das werde bei Putschversuchen oder gerade ausbrechenden Bürgerkriegen meistens so gemacht, sagt Bernd Mesovic von Pro Asyl.
Die Türkei hat sich dazu verpflichtet, Flüchtlinge zurückzunehmen, die versuchen, über die Ägäis nach Griechenland zu kommen. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) geht davon aus, dass die Vereinbarungen von den Ereignissen in der Türkei nicht berührt werden. Grundlage des Abkommens bleibe, „dass wir Sicherheiten haben für die Menschen, die von Griechenland zurückgeschickt werden in die Türkei“, sagte sie am Mittwochabend. „Ich habe bis jetzt keinerlei Anzeichen, dass die Türkei an dieser Stelle nicht zu den Verpflichtungen steht.“ Die Entwicklung werde aber sehr intensiv beobachtet.
Das wird nicht in Zweifel gezogen. Die Türkei ist 1952 der Nato beigetreten und damit noch vor der Bundesrepublik Deutschland. Alle drei Militärputsche in der Türkei - 1960, 1971 und 1980 - hatten keinen Einfluss auf die Nato-Mitgliedschaft. Aus Nato-Sicht ist entscheidend, dass die Türkei ihre Verpflichtungen im Verteidigungsbündnis erfüllt. Das ist bisher der Fall. Allerdings versteht sich die Nato auch als politisches Bündnis. Deswegen können auch ihr Verstöße gegen Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit nicht egal sein.
Bisher macht die Bundesregierung keinerlei Anstalten, die 240 auf der Luftwaffenbasis Incirlik stationierten deutschen Soldaten abzuziehen. Sie sind mit „Tornado“-Aufklärungsflugzeugen und einem Tankflugzeug an den Angriffen auf die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) beteiligt. Die Soldaten bekommen von der Lage im Land nur wenig mit, verlassen ihren Stützpunkt nur selten zu dienstlichen Zwecken. Die Zusammenarbeit mit der Türkei im Kampf gegen den IS funktioniert und wird bisher auch nicht in Frage gestellt.
Die EU hat eine rote Linie gezogen: Wird die Todesstrafe wieder eingeführt, ist für die Türkei kein Platz in der Europäischen Union. Aber auch unabhängig davon ist ein Beitritt derzeit unrealistischer denn je. Zu weit ist die Türkei von den Standards entfernt, die von der EU beim Thema Rechtsstaatlichkeit verlangt werden.
Das Grundgesetz sah ursprünglich keinen Ausnahmezustand oder Notstand vor. 1968 setzte die damalige große Koalition mit ihrer Zwei-Drittel-Mehrheit gegen den erbitterten Widerstand der selbsternannten außerparlamentarischen Opposition (APO) 28 Grundgesetzänderungen durch, die so genannten Notstandsgesetze. Danach dürfen bei einer existenziellen Bedrohung des Bundes oder eines Landes oder bei einer Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung per Gesetz - also nur mit Zustimmung des Bundestages - die Freizügigkeit sowie das Brief- und Fernmeldegeheimnis eingeschränkt werden. Zudem darf die Bundeswehr im Inneren unter bestimmten Bedingungen eingesetzt werden.
Knaus hält Flüchtlingskontingente weiterhin für den richtigen Ansatz. „Das würde der Türkei zeigen, dass wir es ernst meinen. Die Europäer haben Kontingente versprochen, jetzt müssen sie liefern“, sagt der Politikberater. Deutschland könnte sich gezielt aussuchen, wen es aufnimmt und Familien wieder zusammenführen. Die illegale Migration würde durch eine legale ersetzt. Und nicht der, der es mit Glück nach Deutschland schafft, bekommt Asyl, sondern der, der sich bewirbt und nach nachvollziehbaren Kriterien ausgewählt wird.
Doch dafür müsste Deutschland zunächst festlegen, wie viele Menschen es pro Jahr aufnehmen will und integrieren kann. Sind es Gabriels 500.000 oder doch eher Horst Seehofers 200.000, die die CSU als Obergrenze definiert hat? Oder ist es eine Zahl dazwischen? Wenn die Flüchtlingskrise nicht wieder außer Kontrolle geraten soll, müssen wir diese Debatte führen – jetzt.