Wäre Großbritannien ein Auto und der Brexit das Ziel, würde es dann vom Fahrersitz oder von der Rückbank aus gelenkt? Was klingt wie der Anfang eines schlechten Witzes ist tatsächlich eine Frage, die sich viele Briten in den vergangenen Tagen gestellt haben. Der Fahrer auf der Rücksitzbank ist Außenminister Boris Johnson. Am Steuer sitzen sollte eigentlich Premierministerin Theresa May, doch so genau weiß das keiner mehr.
Vor ihrer groß angekündigten Brexit-Rede in Florenz an diesem Freitag hatte Johnson voriges Wochenende seine Vision für den EU-Austritt vorgelegt und May damit düpiert. Der Gastbeitrag in der konservativen Tageszeitung „Daily Telegraph“ wurde als Herausforderung an die Regierungschefin gewertet. May gilt seit der schiefgelaufenen Parlamentswahl im Juni als angezählt. Doch plötzlich schlug Johnson wieder sanfte Töne an: Die Regierung sei sich in Sachen Brexit einig wie ein „Nest singender Vögel“, zwitscherte er.
Ein „Nest singender Vögel“? Brexit und der Machtkampf in der Regierung wirken doch eher wie das Gewühle in einer Schlangengrube. Wird May den Parteitag der Konservativen im Oktober überhaupt als Partei- und Regierungschefin überleben, fragen britische Medien. Geschlossenes Auftreten sieht anders aus. Auch deshalb wird Mays Grundsatzrede zum Brexit mit Spannung erwartet.
Medien spekulierten, May wolle finanzielle Zugeständnisse an die EU machen, um die schleppenden Brexit-Verhandlungen mit Brüssel vor der nächsten Runde kommende Woche zu beleben. Die „Financial Times“ nannte eine Summe von 20 Milliarden Euro. So viel zahlt Großbritannien in etwa für zwei Jahre an Netto-Mitgliedsbeiträgen an die EU. Brüssel fordert aber bis zu 100 Milliarden Euro, und zwar für gemeinsam eingegangene EU-Finanzverpflichtungen wie Pensionslasten.
Johnson hat zwar vage in Aussicht gestellt, alte Pflichten zu erfüllen. Zahlungen für den freien Zugang zum EU-Binnenmarkt lehnte er in seinem Artikel aber ab. Was die Beteiligten mit ihren Andeutungen und gestreuten Informationen jeweils genau meinen, bleibt nebulös. Aber in jedem Fall dürfte neuer Ärger drohen.
May unter Druck
May hat alle Mühe ihre Landsleute davon zu überzeugen, dass sie am Steuer sitzt. „Diese Regierung wird von vorne gesteuert“ und „Boris ist Boris“, sagte sie auf dem Weg zur UN-Vollversammlung nach New York diese Woche. Nicht wenige glauben, ein Rausschmiss wäre angemessener gewesen. Doch dazu sei May nach der misslungenen Neuwahl zu schwach, meint der konservative Abgeordnete und EU-Befürworter Ken Clarke. Stattdessen machen Gerüchte die Runde, Johnson drohe mit Rücktritt, sollte May sich nicht seinen Wünschen zum EU-Austritt beugen.
Johnson war der prominenteste Brexit-Befürworter vor dem Referendum im Juni 2016. Kaum jemand zweifelt daran, dass er in den Regierungssitz Downing Street einziehen will. Doch ob Johnson tatsächlich ein Interesse daran hat, May noch vor dem EU-Austritt im März 2019 zu stürzen, ist zweifelhaft. Eine Neuwahl wäre kaum zu vermeiden und die Konservativen müssten mit einer Niederlage rechnen.
In Brüssel sieht man das Wirrwarr um die britische Regierungslinie weitgehend ratlos. Bis zu Johnsons Artikel habe man den Eindruck gehabt, die britische Position kläre sich langsam, sagen europäische Diplomaten - „bis dann der Nebel wieder aus den Wiesen stieg“.
Welche deutschen Branchen der Brexit treffen könnte
Jedes fünfte aus Deutschland exportierte Auto geht laut Branchenverband VDA ins Vereinigte Königreich. Präsident Matthias Wissmann warnte daher vor Zöllen, die den Warenverkehr verteuerten. BMW etwa verkaufte in Großbritannien 2015 rund 236 000 Autos - über 10 Prozent des weltweiten Absatzes. Bei Mercedes waren es 8 Prozent, bei VW 6 Prozent. BMW und VW haben auf der Insel zudem Fabriken für ihre Töchter Mini und Bentley. Von „deutlich geringeren Verkäufen“ in Großbritannien nach dem Brexit-Votum berichtete bereits Opel. Der Hersteller rechnet wegen des Entscheids 2016 nicht mehr mit der angepeilten Rückkehr in die schwarzen Zahlen.
Für die deutschen Hersteller ist Großbritannien der viertwichtigste Auslandsmarkt nach den USA, China und Frankreich. 2015 gingen Maschinen im Wert von 7,2 Milliarden Euro auf die Insel. Im vergangenen Jahr liefen die Geschäfte weniger gut. In den ersten zehn Monaten 2016 stiegen die Exporte nach Großbritannien dem Branchenverband VDMA zufolge um 1,8 Prozent gemessen am Vorjahr. 2015 waren sie aber noch um 5,8 Prozent binnen Jahresfrist gewachsen. Mit dem Brexit sei ein weiteres Konjunkturrisiko für den Maschinenbau dazugekommen, sagte VDMA-Präsident Carl Martin Welcker im Dezember.
Die Unternehmen fürchten schlechtere Geschäfte wegen des Brexits. Der Entscheid habe bewirkt, dass sich das Investitions- und Konsumklima in Großbritannien verschlechtert habe, sagte jüngst Kurt Bock, Präsident des Branchenverbands VCI. Für die deutschen Hersteller ist Großbritannien ein wichtiger Abnehmer gerade von Pharmazeutika und Spezialchemikalien. 2016 exportierten sie Produkte im Wert von 12,9 Milliarden Euro ins Vereinigte Königreich, rund 7,3 Prozent ihrer Gesamtexporte.
Für Elektroprodukte „Made in Germany“ ist Großbritannien der viertgrößte Abnehmer weltweit. 2015 exportierten deutsche Hersteller laut Branchenverband ZVEI Waren im Wert von 9,9 Milliarden Euro in das Land, 9,5 Prozent mehr als im Vorjahr. Im vergangenen Jahr liefen die Geschäfte mit dem Vereinigten Königreich nicht mehr so gut. Nach zehn Monaten verzeichnet der Verband ein Plus bei den Elektroausfuhren von 1,7 Prozent gemessen am Vorjahr. Grund für die Eintrübung seien nicht zuletzt Wechselkurseffekte wegen des schwachen Pfunds, sagte Andreas Gontermann, Chefvolkswirt des ZVEI.
Banken brauchen für Dienstleistungen in der EU rechtlich selbstständige Tochterbanken mit Sitz in einem EU-Staat. Derzeit können sie grenzüberschreitend frei agieren. Mit dem Brexit werden Barrieren befürchtet. Deutsche Geldhäuser beschäftigten zudem Tausende Banker in London, gerade im Investmentbanking. Die Deutsche Bank glaubt indes nicht, dass sie ihre Struktur in Großbritannien „kurzfristig wesentlich“ ändern muss. Die Commerzbank hat ihr Investmentbanking in London schon stark gekürzt. Um viel geht es für die Deutsche Börse. Sie will sich mit dem Londoner Konkurrenten LSE zusammenschließen. Der Brexit macht das Projekt noch komplizierter.
Die Haupterwartung an Mays Rede lautet denn auch: „Größere Klarheit und mehr Substanz, um endlich Fortschritte bei den Verhandlungen möglich zu machen.“ Dies gilt auch für die Frage, welche Rechte die 3,2 Millionen EU-Bürger in Großbritannien wohl künftig haben werden und wie die neue EU-Außengrenze zwischen der Republik Irland und dem britischen Nordirland aussehen könnte.
Die Verhandlungen schleppen sich schon seit Juni in bislang drei mehrtägigen Verhandlungsrunden dahin - ohne greifbare Ergebnisse. Knackpunkt für die EU ist das Geld: Sie will endlich eine klare Zusage aus London, dass man finanzielle Verpflichtungen begleicht, auch über das Austrittsdatum 2019 hinaus.
Ein Signal in die Richtung erhofft sich die EU von Mays Rede und Eckpunkte, wie sie sich die Übergangszeit nach dem Austritt vorstellt. Ob May das nun liefern kann, nachdem Johnson sie mit seiner harten Brexit-Linie unter Druck gesetzt hat? In Brüssel ist man sich da nicht sicher und fürchtet eine weitere zähe Runde, wenn die Brexit-Unterhändler ab Montag weiterreden.