Wirtschaft im Weitwinkel

Europa en marche

Die Diskussion über die Zukunft Europas nimmt nach einer längeren Ruhephase endlich wieder Fahrt auf. Europa ist dabei, sich vom System Merkel zu emanzipieren – gut für die Finanzmärkte!

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Die Diskussion über die Zukunft Europas nimmt nach einer längeren Ruhephase endlich wieder Fahrt auf. Quelle: REUTERS

Mitte September präsentierte Kommissionspräsident Jean-Claude Junker seiner Vorstellungen, wie er die EU demokratischer und handlungsfähiger machen will. Vor wenigen Tagen ging der französische Präsident Macron noch deutlich weiter: Er will Zusammenarbeit in der Union erheblich ausweiten und fordert nicht weniger als eine "Neugründung" der EU. Macron lässt damit das System Merkel ziemlich "veraltet" aussehen.

Merkel ist in der Vergangenheit nur selten mutig vorangegangen. Sie hat sich eher in kleinsten Schritten vorangetastet. Und auch jetzt, nach der Bundestagswahl, ist sie nicht wirklich handlungsfähig. Sie steht vor komplizierten, vermutlich langwierigen Koalitionsverhandlungen. Die Positionen ihrer möglichen Koalitionspartner liegen sehr weit auseinander.

Daher ist es interessant, dass Macrons Rede auch als Zeichen zu verstehen war, dass man in ganz Europa mit Frankreich als politische Führungsmacht wieder rechnen kann. Europa ist dabei, sich vom System Merkel zu emanzipieren. Dies ist völlig überraschend. Die Eurokrise ist scheinbar überwunden hat und der Euroraum ist in einem zyklischen Aufschwung gemündet.

Macrons Rede war aber viel mehr als nur eine Symbolpolitik. Sie ist erfreulicherweise sehr konkret und liefert Europa eine erste ernstzunehmende Gesprächsbasis, wie sich die EU gegen ein weiteres Auseinanderdriften nach dem Brexit stemmen kann.

Dies allein ist schon ein Fortschritt im Vergleich zu den Vorschlägen von EU-Kommissionspräsident Juncker, die allzu offensichtlich darauf zielten, die Machtbasis Brüssels und damit den viel kritisierten Zentralismus noch weiter zu vergrößern. Entsprechend amüsant ist es, wie bemüht Juncker nun wirkt, die Gemeinsamkeiten der beiden Vorschläge in den Vordergrund zu stellen.

In etlichen Punkten wird Macron offene Türen einrennen. Weder gemeinsame Asylstandards, eine EU-weite Mindestbesteuerung multinationaler Konzerne noch die Idee einer stärkeren militärischen Zusammenarbeit dürften unter Europaenthusiasten für Streit sorgen. Ziehen Frankreich und Deutschland hier an einem Strang, dürfte es für den Rest der EU schwer werden, sich diesen Plänen zu widersetzen, wenngleich vor allem die Asylvorschläge bei den mitteleuropäischen EU-Staaten nicht auf ungeteilte Zustimmung treffen werden. Sowohl die Sicherung der Außengrenzen als auch die Asylfrage sind für Europa zentrale Fragen, die es unbedingt zu lösen gilt, um die Einheit der Gemeinschaft nicht zu gefährden. Letztlich könnten diese Punkte den Ausschlag für den Brexit gegeben haben.

Der zweite große Problemkreis, den es zu lösen gilt, um vor allem die Zukunft der Eurozone zu sichern, betrifft aber die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse. Zwar sind sich alle Seiten einig, dass mehr wirtschaftliche Integration essentiell ist, bei der Frage des „wie“ könnten die Positionen aber nicht weiter auseinanderliegen. Macron – wie auch einige weitere Länder des Euroraums - setzt hier weiterhin auf die lenkende Hand des Staates.  So soll ein europäischer Finanzminister, mit einem eigenen Budget ausgestattet, die europäische Integration vorantreiben und damit letztlich auch der Idee eines solidarischen Europas symbolisieren.

Deutschlands Gegenvorschlag zu Macrons Modell

Deutschlands Gegenvorschlag zu Macrons Modell ist der Europäische Währungsfonds, dessen Aufgabe aber die Kontrolle und nicht die Lenkung des fiskalischen Geschehens in der Eurozone wäre. Die hohe Erwartungshaltung an beide Länder verlangt eine Einigung in der Frage und beide Regierungen dürften pragmatisch genug sein, eine zu finden. Die neue Dynamik dürfte sich kaum aufhalten lassen. Auch nicht von der FDP, die in ihrem Wahlprogramm klar Widerspruch gegen eine Politik der stärkeren Vergemeinschaftung im Euroraum eingelegt hat.

Wie Europas Währungen ohne Euro auf- oder abwerten müssten
Das SzenarioDer US-Finanzriese Bank of America Merrill Lynch (BoA) wollte es genauer wissen: Analyst Athanasios Vamvakidis hat den Euro-Währungsraum unter der Maßgabe genauer unter die Lupe genommen, dass die Euro-Zone auseinanderbricht und der Euro abgeschafft wird. Hintergrund sind neben den hohen Staatsschulden einzelner Peripheriestaaten vor allem das absehbare Ende der massiven Anleihekäufe durch die Europäische Zentralbank (EZB), das sogenannte OMT-Programm, und in der Folge wieder steigende Zinsen. Nur die Geldpolitik der EZB hat 2012 eine Eskalation der Staatsschuldenkrise verhindert, in dem die Kreditkosten für die Peripheriestaaten auf ein historisches Tief gedrückt wurden. Was also passiert, wenn das OMT-Programm endet? Quelle: dpa
Schatten-WechselkurseDie BoA-Experten erwarten, dass die EZB das OMT-Programm im kommenden Jahr reduziert und schrittweise auslaufen lässt. Dadurch würden auch die Finanzierungskosten der Staaten wieder ansteigen, obwohl es länger dauern dürfte, die Leitzinsen wieder anzuheben. Insgesamt rechnet die BoA dann mit höheren Schuldenquoten in Italien, Spanien, Portugal und Griechenland als 2012 auf den Höhepunkt der Euro-Schuldenkrise. Ohne einschneidende Reformen steigt somit das Risiko, dass die Euro-Zone auseinanderbricht. Dies vor Augen hat BoA-Analyst Vamvakidis Schattenwechselkurse für die nationalen Nachfolgewährungen gegenüber dem heutigen Euro berechnet. Diese legen Währungsunterschiede zwischen den Euro-Staaten offen, die derzeit durch die Gemeinschaftswährung verborgen sind. Quelle: dpa
GriechenlandGriechenland bleibt das Sorgenkind der Euro-Zone. Trotz spürbarer Fortschritte liegt die Überbewertung Griechenlands zusammen mit der Spaniens an der Spitze. Die griechische Drachme müsste deshalb nach heutigem Stand um 7,5 Prozent abwerten. Immerhin: Vor der Krise lag der Abwertungsbedarf eher bei 30 Prozent, insofern war die Verbesserung deutlich. Nur ein Land der Euro-Zone ist aktuell so stark überbewertet wie Griechenland. Quelle: dpa
SpanienMüsste Spanien zur Peseta zurückkehren, wäre laut BoA eine Abwertung der spanischen Währung um 7,5 Prozent erforderlich. Gegenüber dem Abwertungsbedarf vor der Krise von rund 14 Prozent ist das schon eine Stabilisierung. Allerdings haben sich Spaniens Staatsschulden seit 2008 nahezu verdreifacht. Dank der Geldpolitik der EZB hat sich die Zinsbelastung des Staates jedoch nur um 80 Prozent erhöht. Quelle: Fotolia
FrankreichBräche der Euro heute auseinander, müsste der Franc um fünf Prozent abwerten – und damit deutlich mehr als zu Vorkrisenzeiten. Damals lag die Überbewertung bei nur zwei Prozent. Insgesamt, so Studienautor Vamvakidis, sei die Überbewertung jedoch zu gering, um die Forderungen der Rechtspopulistin Marine Le Pen nach einem Frexit und einer anschließenden Abwertung des Franc zu rechtfertigen. Quelle: dpa
ItalienItalien bleibt etwas überbewertet, so dass die italienische Lire nur um drei Prozent abwerten müsste, um einen angemessenen Wechselkurs zu erreichen. Vor der Krise betrug die Überbewertung noch 7,5 Prozent. Seit 2012 ist die Zinsbelastung des Staates deutlich gesunken. Quelle: dpa
PortugalAuch in Portugal hat sich die wirtschaftliche Lage deutlich gebessert, so dass der Escudo nach heutigen Maßstäben nur noch leicht, nämlich um ein Prozent abwerten müsste, um im Gleichgewicht mit den übrigen Euro-Staaten zu notieren. Quelle: dpa

Somit dürfte der Euroraum nun zunächst in eine Phase einer stärken Lastenverteilung kommen. Auf diese Weise man den Grundstein für eine längerfristige Stabilität des Euroraums legen. Wenn die entsprechenden Länder – insbesondere Italien und Frankreich – im Euroraum nun endlich die Chance nutzten und ihre strukturellen Defizite zumindest teilweise beheben.

Das Risiko dieser Strategie ist aber offensichtlich. Wenn die Reformbemühungen scheitern, besteht die Gefahr, dass die dann geschaffenen neuen Strukturen der Vergemeinschaftung von Lasten zu einem langsamen Zerfall des Euroraums führen. Der Anreiz solcher Strukturen, über seine Verhältnisse zu leben und die politischen und strukturellen Hausaufgaben nicht zu erledigen, ist sehr groß und dürfte ohne den notwendigen politischen Druck auch genutzt werden. Somit liegt es hier ebenfalls an Deutschland und Frankreich die Zukunft des Euroraums zu sichern und wenn notwendig auch harte Entscheidungen gegenüber von Euro-Ländern herbeizuführen.

Die Finanzmärkte werden eine stärke Lastenverteilung und Integrationsbemühungen im Euroraum zunächst sehr positiv sehen und die Risiken ausblenden. Anleihen und Aktien dürften von einer solcher Entwicklung merklich profitieren.

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