Wirtschaftshistoriker Bas van Bavel Lehren der Geschichte für eine bessere EU

Gesellschaftliche Gleichheit und Freiheit waren stets Voraussetzung für florierende Marktwirtschaften. Die Geschichte bietet eine Inspiration für die EU, neu Fuß zu fassen.

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Die Kaufmannshäuser an der Keizergracht in Amsterdam zeugen noch vom Goldenen Zeitalter der Niederlande im 17. Jahrhundert. Quelle: Getty Images

Die Entscheidung der Briten, aus der EU auszutreten, war für viele Anlass zur Neubesinnung auf die Zukunft Europas. Unter ihnen Bundeskanzlerin Merkel. Das Ereignis bewog sie zu der kräftigen Aussage, sie wolle nicht mehr Europa, sondern ein besseres Europa. Wie dieses bessere Europa aussehen soll und welcher Reformen es dazu bedarf, wird sicherlich Gegenstand langwieriger Diskussionen sein. Bevor wir aber über Reformen nachdenken, sollten Entscheidungsträger und Politiker sich besser zuerst auf die Grundlagen der EU als sozialwirtschaftliches Projekt besinnen. Diese Grundlagen beruhen nämlich auf inkorrekten Annahmen.

Die EU hat sich formell dazu entschieden, ein Zusammenschluss mit sozialer Marktwirtschaft sein zu wollen. In diesem Modell bietet eine demokratisch gewählte Regierung in einem System sozialer Umverteilung einen Ausgleich für den Markt als dominantes System für den Austausch von Gütern, Dienstleistungen, Arbeit und Kapital. Politiker und Entscheidungsträger aus vielen politischen Schichten, ob nun sozialdemokratischer, christdemokratischer oder rechtsliberaler Prägung, haben ein fast unerschütterliches Vertrauen in diese Kombination. Der Gedanke lautet: Zuerst muss Wachstum her, das regelt am besten der Markt, danach kann über den Sozialstaat die Umverteilung erfolgen, um damit den Wohlstand zu erhöhen.

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Die EU steht auf schwachen Füßen

Diese Annahme wurde bestätigt und legitimiert durch den Verlauf unserer westlichen Marktwirtschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Damals schienen vom Markt vorangetriebenes Wirtschaftswachstum und der Ausbau des Sozialstaates allem Anschein nach tatsächlich gleichzeitig aufzutreten. Wenn wir aber, dank der jüngsten historischen Forschung, langfristig schauen, ergibt sich ein ganz anderes Bild. Dieses Bild auf die lange Sicht haben wir als Gruppe von Wissenschaftlern der Universität Utrecht zu erforschen versucht.

Unsere Forschung zu Aufstieg und Fall von Marktwirtschaften verschiedener Jahrhunderte zeigt uns, dass Wohlstand und Gleichwertigkeit nicht Folge einer Marktwirtschaft sind, sondern vielmehr die Voraussetzungen zur Entstehung einer Marktwirtschaft bilden. Mehr noch: Langfristig lässt sich eine Marktwirtschaft wegen der - häufig unerwünschten – Wirkungen auf die Verteilung des Reichtums und des politischen Einflusses nicht mit Freiheit und sozialem Wohlstand vereinen. Somit steht die EU auf schwachen Füßen.

Was die Menschen vom Kapitalismus halten

Es gab in der Geschichte viele Gesellschaften, die Güter und Produkte über Marktsysteme austauschten. Viel weniger üblich ist ein Gefüge, in dem auch die Faktoren, die die Produktion ermöglichen (Boden und natürliche Ressourcen, Arbeit und Kapital), über den Markt ausgetauscht und zugewiesen werden. Die meisten Gesellschaften, darunter auch die westeuropäischen bis tief ins 20. Jahrhundert hinein, bedienten sich hauptsächlich anderer Zuweisungssysteme für Boden, Arbeit und Kapital als des Marktes. Man denke dabei zum Beispiel an Familien, Clans, selbstverständlich den Staat, dazu noch horizontal organisierte Verbände wie Dorfgemeinschaften, Gilden, Kooperativen und Vereine, aber auch um Systeme mit einer Zwangskomponente wie Gutswirtschaften, Feudalsysteme oder despotische Systeme.

Im nordwestlichen Kontinentaleuropa waren es im 20. Jahrhundert größtenteils Familien, der Staat und kooperative Verbände die über Boden, Arbeit und Kapital verfügten. Parallel dazu gab es den Markt. Aber es gab keine Dominanz eines bestimmten Systems. Das ergab sich erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts, als der Markt sich auch zu einem dominanten Spieler beim Austausch von Produktionsfaktoren entwickelte.

Der historische Zyklus der Marktwirtschaften

Derartige Marktwirtschaften sind in der westlichen Welt mittlerweile der dominante Typ. Es gab sie in der Geschichte aber auch schon früher in einigen Ausnahmefällen. Die markantesten Beispiele sind die Wirtschaft des Irak im 7. bis 10. Jahrhundert, die italienische Wirtschaft im 12. bis 15. Jahrhundert und die der Niederlande vom 14. bis 18. Jahrhundert. Diese Fälle haben wir ausführlich analysiert und mit den modernen Marktwirtschaften verglichen: Die Marktwirtschaft Englands in der frühen Neuzeit, die der Vereinigten Staaten seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts und die Wirtschaft in Westeuropa im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts. Wer diese Marktwirtschaften miteinander vergleicht, sieht bei allen den gleichen Zyklus von Aufstieg und Fall.

Einen Zyklus, der sich über drei bis vier Jahrhunderte erstreckt.

Zunächst, zu Beginn des Zyklus, bringen soziale Bewegungen eine Situation verhältnismäßig großer sozialer Gleichstellung und Freiheit und ebensolchen Wohlstands hervor. Diese Bewegungen haben durch politische Organisation, Gewerkschaftsbildung, Revolten und Streiks, Gründung von Kooperativen und Vereinen die Standardposition aller Gesellschaften durchbrochen. Die Standardposition ist nämlich die der materiellen Ungleichheit und politischen Unfreiheit. Es gibt nur wenige Gesellschaften, die sich diesem Muster entziehen können. Wenn es doch gelingt, dann liegt dem Erfolg immer eine langanhaltende Welle sozialer Bewegungen zugrunde, die den politischen und wirtschaftlichen Zwang einer kleinen Elite durchbrechen.

Dabei wird auch der Zugriff der Elite auf die Zuweisung von Boden, Arbeit und Kapital, die die Grundlage ihrer Machtposition bilden, durchbrochen. Grund, Arbeit und Kapital werden dabei frei und können in anderer Weise umverteilt werden, zum Beispiel über den Markt.

Dies ermöglicht die Entstehung eines Marktwirtschaftssystems. Anfänglich fördert die Marktwirtschaft weiteres wirtschaftliches Wachstum. Gleichzeitig ist es aber hauptsächlich eine kleine Wirtschaftselite, die die wirtschaftlichen Vorteile am meisten genießt und in der Folge auch politische Einfluss verschafft. Diese Elite verteidigt danach vehement die eigenen Interessen, verdrängt Gruppen oder Organisationen, die entscheidend zum gesellschaftlichen Gleichgewicht beitragen, von ihrem Platz und unterminiert das „Level Playing Field“ der Märkte.

So geschah es im Italien der Renaissancezeit und in den Niederlanden im „Goldenen Zeitalter“ des 17. Jahrhunderts: Epochen die als Höhepunkte dieser Marktwirtschaften gelten, aber gleichzeitig auch den Anfang ihres Niedergangs bildeten. Wachsende Ungleichheit und zunehmende Freiheitseinschränkungen sind die Folge. Spekulationsgeschäfte der Elite, die ihr Geld immer weniger in die Produktion und immer mehr in die Finanzmärkte und in politischen Einfluss steckt, läuten eine Phase wirtschaftlichen Rückgangs ein, die mit dem Verschwinden des marktwirtschaftlichen Systems endet.

Markteliten kaufen politischen Einfluss

Dieses historische Muster lässt sich auch auf die heutige Zeit anwenden. Hier und heute sind die Vereinigten Staaten, das Vereinigte Königreich und Westeuropa die führenden Marktwirtschaften, wobei der heutige Zyklus seinen Anfang in den Vereinigten Staaten nahm. Die Signale, die in der Vergangenheit stets den Niedergang einer Marktwirtschaft einläuteten, sind auch in unserer Zeit sichtbar. So hat die Ungleichheit der Vermögensverteilung in der westlichen Welt in den vergangenen Jahrzehnten zugenommen, nicht nur in den Vereinigten Staaten und dem Vereinigten Königreich, sondern auch in Ländern wie Deutschland und den Niederlanden, wo der Gini-Koeffizient der Privatvermögen auf das hohe Niveau von 0,8 bis 0,9 angestiegen ist.

Auch lässt sich im Vereinigten Königreich und noch prägnanter in den Vereinigten Staaten beobachten, wie eine kleine Marktelite das eigene Geld zum Erringen politischen Einflusses einsetzt. Das ist teils ein indirekter Prozess, bei dem zum Beispiel die Medien im Besitz von Milliardären wie Rupert Murdoch sind, aber er verläuft auch direkt durch intensive Lobbyarbeit und in Form von Wahlkampffinanzierung.

Und es geht sogar noch direkter: In der neuen Regierung Trump gibt es vier Milliardäre und etwa zehn Multimillionäre. Diese Regierung hat die Abschaffung der Erbschaftssteuer zu einer ihrer ersten Maßnahmen erkoren.

Es gibt in der Geschichte kein einziges Beispiel einer Marktwirtschaft, die sich diesem Zyklus entziehen konnte. In allen Fällen kam das Wirtschaftswachstum zum Erliegen, war von zunehmender materieller und politischer Ungleichheit die Rede und brachen die Märkte letztlich ein und verschwanden. Über die Jahrhunderte hinweg war kein Regierungssystem imstande, die dem marktwirtschaftlichen System vorangegangene relativ breite Verteilung von Besitztümern und Macht dauerhaft aufrechtzuerhalten. Sogar in einem Kontext starker repräsentativer Vertretung, wie in den Städten Norditaliens und den niederländischen Stadtstaaten sowie in den Vereinigten Staaten, die traditionell von einer egalitären Politik par excellence geprägt waren, dreht die Spirale, in der die wirtschaftliche Dynamik, die Ungleichheit und die Politik einander negativ beeinflussen, sich immer weiter nach unten.

Das Ergebnis ist dann die Rückkehr der Gesellschaft zur Standardposition, die von sozialer Ungleichheit, politischer Unfreiheit und einer kleinen, mächtigen Elite geprägt wird. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass unsere jetzige Marktwirtschaft sich dem entziehen können wird.

Lehren für ein besseres Europa

Mit anderen Worten: Der von der EU gewählte Weg, in erster Linie eine Marktwirtschaft sein zu wollen, deren Früchte danach sozialverträglich verteilt werden sollen, ist ein naiver Weg, der auf falschen Annahmen beruht. Die EU müsste einen anderen Weg wählen. Der wäre, sich zuerst auf ihre gesellschaftlichen Grundlagen zu richten: als eine Gesellschaft, die sich durch Gleichwertigkeit, breit verfügbare Existenzmittel, Freiheit und eine breite Beteiligung an der Entscheidungsfindung auszeichnet, auch in Form einer starken gesellschaftlichen Mitte. Die Reformen sollten daher in erster Linie in diese Richtung weisen. Danach könnte man schauen, welches Austauschsystem am besten zu dieser Gesellschaft passt.

Das mag an manchen Stellen tatsächlich der Markt sein, gewiss wenn es um den Austausch von Gütern und Produkten geht; doch beim Austausch der wirtschaftlichen Bausteine unserer Existenz – Boden/Rohstoffe, Arbeit und Kapital – ist der Markt als allesbeherrschendes System vielleicht weniger geeignet. Vielleicht sollten wir uns eher einstellen auf eine Kombination verschiedener Zuweisungssysteme (Kooperativen, Vereine, kleine, selbständige Familienunternehmen, Zusammenschlüsse selbständiger Unternehmen, Behörden und der Markt), vor allen Dingen wenn wir weiterhin eine Gesellschaft anstreben, die auf breitem Wohlstand fußt.

Übersetzt von: textual – Koert Braches

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