Wirtschaftshistoriker Bas van Bavel Lehren der Geschichte für eine bessere EU

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Markteliten kaufen politischen Einfluss

Dieses historische Muster lässt sich auch auf die heutige Zeit anwenden. Hier und heute sind die Vereinigten Staaten, das Vereinigte Königreich und Westeuropa die führenden Marktwirtschaften, wobei der heutige Zyklus seinen Anfang in den Vereinigten Staaten nahm. Die Signale, die in der Vergangenheit stets den Niedergang einer Marktwirtschaft einläuteten, sind auch in unserer Zeit sichtbar. So hat die Ungleichheit der Vermögensverteilung in der westlichen Welt in den vergangenen Jahrzehnten zugenommen, nicht nur in den Vereinigten Staaten und dem Vereinigten Königreich, sondern auch in Ländern wie Deutschland und den Niederlanden, wo der Gini-Koeffizient der Privatvermögen auf das hohe Niveau von 0,8 bis 0,9 angestiegen ist.

Auch lässt sich im Vereinigten Königreich und noch prägnanter in den Vereinigten Staaten beobachten, wie eine kleine Marktelite das eigene Geld zum Erringen politischen Einflusses einsetzt. Das ist teils ein indirekter Prozess, bei dem zum Beispiel die Medien im Besitz von Milliardären wie Rupert Murdoch sind, aber er verläuft auch direkt durch intensive Lobbyarbeit und in Form von Wahlkampffinanzierung.

Und es geht sogar noch direkter: In der neuen Regierung Trump gibt es vier Milliardäre und etwa zehn Multimillionäre. Diese Regierung hat die Abschaffung der Erbschaftssteuer zu einer ihrer ersten Maßnahmen erkoren.

Es gibt in der Geschichte kein einziges Beispiel einer Marktwirtschaft, die sich diesem Zyklus entziehen konnte. In allen Fällen kam das Wirtschaftswachstum zum Erliegen, war von zunehmender materieller und politischer Ungleichheit die Rede und brachen die Märkte letztlich ein und verschwanden. Über die Jahrhunderte hinweg war kein Regierungssystem imstande, die dem marktwirtschaftlichen System vorangegangene relativ breite Verteilung von Besitztümern und Macht dauerhaft aufrechtzuerhalten. Sogar in einem Kontext starker repräsentativer Vertretung, wie in den Städten Norditaliens und den niederländischen Stadtstaaten sowie in den Vereinigten Staaten, die traditionell von einer egalitären Politik par excellence geprägt waren, dreht die Spirale, in der die wirtschaftliche Dynamik, die Ungleichheit und die Politik einander negativ beeinflussen, sich immer weiter nach unten.

Das Ergebnis ist dann die Rückkehr der Gesellschaft zur Standardposition, die von sozialer Ungleichheit, politischer Unfreiheit und einer kleinen, mächtigen Elite geprägt wird. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass unsere jetzige Marktwirtschaft sich dem entziehen können wird.

Lehren für ein besseres Europa

Mit anderen Worten: Der von der EU gewählte Weg, in erster Linie eine Marktwirtschaft sein zu wollen, deren Früchte danach sozialverträglich verteilt werden sollen, ist ein naiver Weg, der auf falschen Annahmen beruht. Die EU müsste einen anderen Weg wählen. Der wäre, sich zuerst auf ihre gesellschaftlichen Grundlagen zu richten: als eine Gesellschaft, die sich durch Gleichwertigkeit, breit verfügbare Existenzmittel, Freiheit und eine breite Beteiligung an der Entscheidungsfindung auszeichnet, auch in Form einer starken gesellschaftlichen Mitte. Die Reformen sollten daher in erster Linie in diese Richtung weisen. Danach könnte man schauen, welches Austauschsystem am besten zu dieser Gesellschaft passt.

Das mag an manchen Stellen tatsächlich der Markt sein, gewiss wenn es um den Austausch von Gütern und Produkten geht; doch beim Austausch der wirtschaftlichen Bausteine unserer Existenz – Boden/Rohstoffe, Arbeit und Kapital – ist der Markt als allesbeherrschendes System vielleicht weniger geeignet. Vielleicht sollten wir uns eher einstellen auf eine Kombination verschiedener Zuweisungssysteme (Kooperativen, Vereine, kleine, selbständige Familienunternehmen, Zusammenschlüsse selbständiger Unternehmen, Behörden und der Markt), vor allen Dingen wenn wir weiterhin eine Gesellschaft anstreben, die auf breitem Wohlstand fußt.

Übersetzt von: textual – Koert Braches

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