Wohnkonzepte Experiment in Wiener Siedlung: 20 Jahre „autolos und glücklich“

Das Projekt der autofreien Mustersiedlung in Wien-Floridsdorf hatten in den 1990er Jahren die Grünen angestoßen. Im Dezember 1999 waren die stark nachgefragten Wohnungen bezugsfertig. Quelle: dpa

Die autofreie Mustersiedlung in Wien ist lange vor der Zeit der Klimaaktivistin Greta Thunberg und „Fridays for Future“ entstanden. 700 Menschen testen seit 20 Jahren ein Leben ohne Auto.

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Dieser Mietvertrag hat es in sich: Wer in die autofreie Siedlung in Wien zieht, darf weder einen Wagen besitzen noch dauerhaft nutzen. Was wie eine Antwort auf die aktuelle Klimadebatte klingt, ist in dem Areal im Stadtteil Floridsdorf mit seinen 244 Wohnungen seit 20 Jahren gelebte Praxis - mit vielen Folgen. So sei Geld, das für die sonst obligatorischen 244 Tiefgaragenparkplätze gespart wurde, in die Einrichtung vieler Gemeinschaftsräume geflossen, sagt der 63-jährige Wolfgang Parnigoni, Mieter der ersten Stunde und Mitglied des BewohnerInnenbeirats. „Wir haben ein allgemeines Wohnzimmer mit Dachterrasse und Grillplatz, eine Sauna, einen Fitnessraum, eine Rad- und Holzwerkstatt, einen Kleinkinder- und Jugendraum“, zählt der ehemalige Berufsoffizier auf. Klar sei: Das Nein zum Auto begründe eine besondere Gemeinschaft.

„Aber wir sind keine Sekte“, betont Parnigoni mit Blick auf die rund 700 Bewohner. „Hier leben nicht nur Veganer. Auch wir trinken Bier und essen Schnitzel.“ Die sechs kompakten Wohnblöcke neben einer Hauptverkehrsstraße liegen im 21. Bezirk, am Rand der Stadt unweit des Freizeitgeländes Alte Donau. In den 1990er Jahren hatten die Grünen in der Millionenmetropole das Projekt angestoßen. Im Dezember 1999 waren die stark nachgefragten Wohnungen bezugsfertig. Das Ganze hat nichts mit der optischen Idylle autofreier Spielstraßen zu tun. Was die Menschen hier zusammenführe, sei eine bestimmte soziale Haltung, die über Umweltfragen hinausgehe, sagt Parnigoni. „Autolos und glücklich“, sei ein mögliches Miteinander-Motto, so der ehemalige Soldat.

Er selbst hatte sich nach seinen Worten aus Unlust am Autofahren vor 20 Jahren leichten Herzens von seinem fahrbaren Untersatz getrennt. „Es hat einfach keinen Spaß mehr gemacht. Und ein Auto kostet 4000 Euro im Jahr, das Geld kann ich anders besser ausgeben.“ Das seit 2010 rot-grün regierte Wien macht mit einem günstigen, dichten und schnellen Nahverkehrsnetz das Leben ohne Auto zumindest in der Stadt einfach. Unter den 1,9 Millionen Bewohnern ist die Zahl derer, die eine mit 365 Euro attraktiv bepreiste Jahreskarte für Busse und Bahnen nutzen, höher als die Zahl der Autobesitzer. Und auch jenseits der Stadtgrenzen hat Parnigoni die Erfahrung gemacht: „Es ist unglaublich, wie weit man mit öffentlichen Verkehrsmitteln kommt.“

Die 36-jährige Physiotherapeutin Doris Trögl macht nun die Probe aufs Exempel. Erst vor wenigen Wochen haben sie und ihr Partner eine Drei-Zimmer-Wohnung in der Siedlung gekauft – und geben ihren Wagen nun ab. „Ich muss jetzt schauen, wie ich ohne Auto zurechtkomme“, sagt die Mutter einer zehn Monate alten Tochter zuversichtlich, aber auch etwas skeptisch. „Ich bin jedenfalls begeistert von der Idee und dem Angebot.“

Auf sein Rad vertraut der 70-jährige Hans Steiner. Die sieben Kilometer bis ins Zentrum seien für ihn kein Problem. Seine inzwischen erwachsenen Kinder seien in der autofreien Siedlung aufgewachsen und durch sie geprägt worden. „Mein Sohn hat auch kein Auto und will sich nicht einmal eines borgen“, sagt der Rentner.

Kein Wunder, dass die Grünen in dem Wahlsprengel, zu dem die Siedlung gehört, bei Wahlen Spitzenwerte erzielen. In dem eigentlich von der SPÖ dominierten und von einer starken rechten FPÖ geprägten Stadtteil finden sich rund um die Siedlung 35 Prozent Grün-Wähler.

Wenn sich trotz bester Vorsätze ein eigenes Auto zumindest eine Zeitlang nicht mehr vermeiden lässt, befindet der Beirat über eine Ausnahme. Dazu gehöre, wenn längere Fahrten wegen eines Pflegefalls nicht zu vermeiden seien oder andere gesundheitliche Gründe, sagt Parnigoni. Aber die Ausnahme sei die große Ausnahme. Allenfalls 15 Bewohner machten davon Gebrauch, schätzt er. Wer wirklich auf Dauer Autofahren müsse, ziehe von selber aus – so groß sei die Verpflichtung gegenüber der Idee. Das Ausweichen auf ein Motorrad ist laut Mietvertrag erlaubt, da nur „mehrspurige Kraftfahrzeuge“ unter den Bann fallen.

Ein hauseigenes Intranet spiegelt das Miteinander wider. Wer beim Kochen feststelle, dass ihm Knoblauch fehle, schreibe kurz eine Mail und ihm werde binnen kürzester Zeit ausgeholfen, sagt Parnigoni. „Vor ein paar Tagen hat jemand einen Nazi-Spruch auf einer Hauswand in der Nähe entdeckt und nach einer Spraydose zum Übersprayen gefragt. Das Problem war schnell erledigt.“

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