Wer wissen will, wie weit es ist vom Stammtisch in die Wirklichkeit, der sollte einen kurzen Blick nach Bayern richten und dann mit Franziska Giffey sprechen. Als die letzten Hürden für Bulgaren und Rumänen auf dem europäischen Arbeitsmarkt an Neujahr fielen, hielt es die CSU für angezeigt, vor „fortgesetztem Missbrauch“ der Freizügigkeit zu warnen. „Falsche Anreize zur Zuwanderung“ müssten deshalb schleunigst verringert werden. Ein Papier für die Klausurtagung in Wildbad Kreuth, das vergangene Woche beschlossen wurde, enthielt dann noch diesen griffigen Satz: „Wer betrügt, der fliegt.“ Franziska Giffey atmet erst einmal tief durch, wenn sie so etwas hört. Dann sagt sie: „Die allermeisten, die hierher kommen, tun das nicht mit dem Vorsatz, unser Sozialsystem auszunutzen. Die wollen arbeiten, wollen klarkommen.“
Hierher, das heißt: Berlin-Neukölln. Giffey ist dort SPD-Bezirksstadträtin, ihr braucht niemand etwas über Probleme mit Einwanderern zu erzählen. Der Ausländeranteil liegt bei 40 Prozent, davon 5000 Bulgaren und Rumänen, und das ist nur die offizielle Zahl. Allein im vergangenen Jahr hat Giffey 31 Willkommensklassen für Kinder eingerichtet, die kein Deutsch sprechen. Mehr als zwei Dutzend heruntergekommene Mietshäuser gibt es allein bei ihr im Viertel, in denen Einwanderer – nicht selten Roma – zusammengepfercht auf Matratzenlagern hausen, angeblich für 200 oder 300 Euro pro Kopf und Monat. „Wir haben es zum großen Teil mit Menschen zu tun, die es schon in ihrer Heimat extrem schwer hatten“, sagt Giffey. „Aber sie kommen hierher in der Hoffnung, es überhaupt mal ein bisschen besser zu haben.“
Sie kann nicht verstehen, wenn in diesen Tagen politische Scharfmacher vor einer Welle warnen, die angeblich über Deutschland hereinbrechen wird. Giffey spürt keinen Dammbruch. Was sie sieht, ist ein steter Zustrom von Osteuropäern – und das seit Jahren. Natürlich gibt es Kriminalität, und selbstverständlich kennt sie die Fakten: Alleine in Neukölln bezieht schon jetzt etwa jeder dritte Bulgare und Rumäne als Selbstständiger Hartz IV, die Gewerbeanmeldung ist lax. Und das Kindergeld, das ab dem ersten Tag und auch für die Familie in der Heimat gezahlt wird, wäre eben für viele dort eine unerreichbare Summe. Aber trotz alldem erlebt Giffey in ihrem Viertel vor allem Menschen, die die harten Jobs machen, für die sich kaum ein Deutscher mehr findet: als Putzkraft oder am Bau, als Schrott-Schlepper oder Handlanger bei Entrümpelungen. Weit jenseits irgendwelcher Mindestlöhne oder Tarifverträge.
Populisten und Nationalisten überall in Europa schauen darüber gerne hinweg: Sie fürchten bei Einwanderern gleich Sozialmissbrauch. Die nahezu vollendete Freizügigkeit aller EU-Bürger im Binnenmarkt, eine liberale Errungenschaft des Kontinents, verkommt bei Marine Le Pen in Frankreich oder Geert Wilders in den Niederlanden zum Freifahrtschein für Halunken in die üppigen Sozialsysteme Westeuropas. Auch in Belgien, Österreich oder Italien: Überall wollen rechte Parteien wie Lega Nord oder FPÖ mit Ressentiments Stimmen bei der Europawahl Ende Mai sammeln. In Großbritannien treibt die europa-skeptische UKIP den konservativen Premier David Cameron mit platten Parolen vor sich her.
"Die Zuwanderung nach Deutschland ist eine Erfolgsstory"
Die Euro-Krise, drückende Rezessionen und Massenarbeitslosigkeit haben die europäische Solidarität brüchig und anfällig werden lassen. „Man muss die Sorgen der Menschen ernst nehmen und darüber rational, offen und ehrlich reden“, sagt Martin Schulz, der Präsident des Europäischen Parlamentes, „gerade um sie den Rechten und Populisten mit ihrer Panikmache, den bewussten Übertreibungen, den fremdenfeindlichen Untertönen und der offensichtlichen Wahltaktik nicht zu überlassen.“ Auch Schulz sagt deshalb offen: „Wir können nicht leugnen, dass es in manchen Städten Probleme gibt mit einer kleinen Minderheit, die nicht oder schwer integrierbar ist und sich nicht verantwortungsbewusst verhält.“
Seit vergangener Woche gibt es eigens eine Staatssekretärsrunde des Bundes, die das deutsche Sozialrecht auf missbrauchsanfällige Schlupflöcher durchleuchten soll. „Freizügigkeit heißt freier Zugang zum Arbeitsmarkt, nicht freier Zugang zu Sozialleistungen“, sagt Hans-Peter Uhl (CSU), innenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. „Wir wollen die Probleme nicht mit Geld zukleistern, sondern durch eine Rechtsänderung lösen.“
Die CSU will baldmöglichst konkrete Maßnahmen auf allen staatlichen Ebenen. In den Städten und Kreisen könnten die Behörden enger zusammenarbeiten. Das Sozialamt, das Stütze auszahlt, sollte sich mit der Familienkasse abstimmen, von der das Kindergeld kommt. Die Gewerbeaufsicht müsse die (Schein-)Selbstständigkeit prüfen, so wie das Einwohnermeldeamt kontrollieren solle, wie viele Menschen oder Firmen in einer Drei-Zimmer-Wohnung angemeldet seien. Und schließlich solle die Polizei ihre Erkenntnisse über Straßenprostitution und den sogenannten Arbeiterstrich für billige Leihkräfte beisteuern. Die meisten Informationen, so Uhl, könnten problemlos ausgetauscht werden. Wo dies bisher aus Gründen des Datenschutzes nicht möglich sei, müssten die Vorschriften geändert werden. Auch die Ergebnisse der Finanzkontrolle Schwarzarbeit, für die der Zoll Razzien durchführt, sollten ebenfalls einfließen.
Allerdings: Schon im vergangenen Herbst hatte sich eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe intensiv über die Themen gebeugt. Das Ergebnis waren viele Bedenken und Fallstricke.
Dass Horrorszenarien vor überbordender Einwanderung aus Osteuropa schon in früheren Jahren stets überzeichnet waren; dass sich handfeste Belege für großflächigen Missbrauch der Wohlfahrtssysteme bis heute nicht finden lassen – diese Wahrheit geht in der erhitzten Debatte schnell verloren. „Die Zuwanderung nach Deutschland ist eine Erfolgsstory“, urteilt Herbert Brücker vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. „Wir erleben eine Wende: Die Zahl der gut Ausgebildeten wächst, die der Ungebildeten sinkt.“ Der krisenresistente deutsche Arbeitsmarkt ist so attraktiv wie seit Jahrzehnten nicht, Zuwanderer haben einen immer größeren Anteil am Jobboom. Die Ausnahmen von dieser Erfolgsgeschichte betreffen in der Tat vor allem Rumänen und Bulgaren. „Sie sind im Schnitt schlechter qualifiziert als die Einwanderergenerationen vor ihnen“, hat Brücker herausgefunden.
Sozialsystem weckt Sehnsüchte in EU-Ostländern
Die EU steht deshalb – Populismus hin oder her – an einer entscheidenden Wegmarke: Hält das krisengeschüttelte Europa und halten seine Bürger stand, wenn die Integration der Abgehängten vielerorts scheitert? Wenn Rechte die Probleme nutzen wollen, um an den freiheitlichen Prinzipien zu sägen? Und, mindestens ebenso wichtig: Können Europas Sozialsysteme in Zeiten der Freizügigkeit tatsächlich im vollen Umfang erhalten bleiben?
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) wird über diese letzte Frage entscheiden müssen – nicht zuletzt auf Bitten des Bundessozialgerichts. Denn noch ist die Rechtslage reichlich unklar. Einerseits fordert die EU-Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit aus dem Jahr 2004, dass alle EU-Bürger gleich behandelt werden müssen. Anderseits hat der EuGH im Juni 2009 geurteilt, dass es durchaus rechtens ist, wenn Sozialhilfe erst gewährt wird, sobald der Arbeitssuchende eine Verbindung mit dem Arbeitsmarkt des Aufenthaltslandes hergestellt hat. Die Gefahr, dass Einwanderer nur von Sozialleistungen leben könnten, haben die Richter erkannt – und Schutzklauseln erlaubt.
Deutschland schließt deshalb arbeitsuchende Einwanderer von der Grundsicherung aus – theoretisch. Praktisch haben deutsche Sozialgerichte schon gegenteilig geurteilt. Steht also der Gleichheitsgrundsatz der EU über allem? Bis die Richter in Luxemburg diese Frage abschließend klären, wird Zeit vergehen.
EU-Sozialrechtsexperten können sich aber kaum vorstellen, dass die Richter keinerlei Zugeständnisse an nationale Akzeptanzgrenzen machen: „Vermutlich wird der EuGH Einschränkungen beim Anspruchserwerb von Hartz IV akzeptieren – das ist in Hinblick auf seine frühere Rechtsprechung jedenfalls anzunehmen“, analysiert Maximilian Fuchs, Professor an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.
Sollte der Ausschluss von Leistungen jedoch keinen Bestand haben, warnt der Sachverständigenrat für Integration und Migration vor gravierenden Folgen: Jede weitere Expansion der „Solidarität unabhängig von jeder Erwerbstätigkeit, die über das ohnehin schon etablierte Maß hinausgeht, kann ihre Akzeptanz auf eine schwere Probe stellen“, heißt es im aktuellen Jahresgutachten. Es bestehe das Risiko, dass „in Staaten mit einem hohen sozialen Schutz die nationalen Mindeststandards sinken“, wenn das Leistungsniveau für eine steigende Zahl von Empfängern irgendwann nicht mehr finanziert werden könnte.
Die Freizügigkeit erhöht ohne Zweifel den Druck auf die westlichen Sozialsysteme – weil diese Sehnsüchte in den EU-Ostländern wecken, deren Wohlstand etwa das Niveau Kasachstans oder Costa Ricas hat. Es sind Städte wie das bulgarische Varna, von wo aus sich Roma aufmachen Richtung Deutschland. Jeder fünfte der 340 000 Einwohner in der Hafenstadt am Schwarzen Meer ist ein Roma. Die meisten von ihnen leben in sogenannten Mahalas, Slums weit weg vom Stadtzentrum.
Eine der größten dieser Siedlungen klebt an einem Berghang oberhalb einer viel befahrenen Schnellstraße. Eine Schlaglochpiste schlängelt sich hoch zu halb verfallenen Hütten aus Brettern, Blech und alten Ziegelsteinen. Manche der Dächer sind mit Plastiktüten abgedichtet. In den Gassen hocken bärtige Männer in zerrissenen T-Shirts. Zwischen Müllbergen liegt ein ausgebranntes Auto; ein Esel wühlt im Müll. Dazwischen rennen nackte Kinder einem alten Fußball hinterher.
Wachstum durch Zuwanderung im Osten Deutschlands
Die meisten Roma in Varna sprechen kein Bulgarisch. Kaum jemand kann lesen und schreiben. Einige der Bewohner sammeln Schrott und verdienen damit ein paar Cent am Tag. Lokale Mafiabanden dagegen verdienen an den Ärmsten der Armen viel. In den Hütten machen Geschichten von Roma, denen Organe entnommen wurden, die Runde. Drogen- und Babyhandel seien üblich, berichten Hilfsorganisationen. Die Hoffnung auf ein besseres Leben in der Heimat haben die meisten längst aufgegeben. Zustände wie in Varna treiben viele in den Westen. „Auswandern nach Deutschland lohnt auf jeden Fall“, sagt der 16-jährige Isis, „das Geld dort ist gut, und es ist schnell verdient.“
Die volle Freizügigkeit für alle Bulgaren und Rumänen wird die EU deshalb in Zukunft vor weit größere Anpassungsprobleme stellen, als dies bisher der Fall war. Wie sehr Deutschland aber bisher von Arbeitskräften aus dem Osten profitiert hat, wird nahe der Grenze deutlich. In Pasewalk zum Beispiel: Straßenschilder auf Deutsch und Polnisch, polnische Ärzte im örtlichen Krankenhaus. Vor zehn Jahren hat die EU-Osterweiterung das Leben in der Region verändert. Seither zogen Tausende Polen nach Vorpommern oder in die Grenzregionen Brandenburgs. Sie füllten leer stehende Plattenbauten als Mieter, kauften Häuser in Schrumpfgemeinden oder machten sich als Kleinunternehmer selbstständig.
„Natürlich gab es da auch eine Sozialneiddebatte“, sagt die Landtagsabgeordnete Beate Schlupp (CDU) aus dem grenznahen Uecker-Randow heute. Gerüchte hätten die Runde gemacht, dass ganze Wohnblöcke nun von Polen bewohnt seien und diese Wohngeld vom deutschen Staat bezögen. Doch vor allem gewinnt die einst abgelegene Gegend: „Ohne Stettin hätten wir keine eigene Kraft zu wachsen“, sagt Schlupp.
Die Grenzgemeinde Löcknitz lässt sogar neue Baugebiete ausweisen – in einer ehedem abgehängten Region. Ein Kindergarten wurde neu gebaut, die Schule erweitert. Jeder zehnte der rund 3000 Einwohner kommt aus dem Nachbarland, etliche arbeiten in Deutschland. Die Älteren auf dem Land sind aus Sicht Schlupps auch für die Neuen. „Sie merken, dass sie jetzt im Dorf nicht mehr die Letzten der Bastion sind, wenn polnische Familien zuziehen.“
Doch die Reibung, die durch das Fremde und durch einsatzfreudige Neulinge entsteht, ruft in Mecklenburg-Vorpommern und anderswo auch immer wieder die rechtsextreme NPD auf den Plan. Leider, sagt Schlupp, verfange diese „undifferenzierte Stimmungsmache“ bei manchen. In einigen Örtchen holt die NPD bei Wahlen deshalb bis zu einem Drittel der Stimmen.
Für die Europawahl ist das alles andere als ein gutes Zeichen.