Gaza-Konflikt Israel lehnt Waffenstillstand ab

Die israelischen Streitkräfte setzen ihre Angriffe auf Ziele im Gazastreifen fort und bombardieren zum Beispiel Schmugglertunnel. Radikale Palästinenser beschießen israelische Städte mit Raketen. Forderungen nach einer Waffenruhe hält Israel in dieser Situation für nicht umsetzbar.

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Palästinenser inspizieren die Schäden nach einem israelischen Angriff. Quelle: ap

HB JERUSALEM. 35 Angriffe flog die israelische Luftwaffe in der Nacht zum Mittwoch auf Ziele im Gazastreifen. Von dort wurden 20 Raketen und Granaten über die Grenze nach Israel gefeuert. Zwei Raketen vom Typ "Grad" schlugen in der Nähe der Stadt Beerschewa und damit rund 40 Kilometer entfernt vom Gazastreifen ein.

Für das israelische Sicherheitskabinett ist die Lage damit klar: Das Kabinett hat die Fortsetzung der Angriffe auf den Gazastreifen beschlossen. Die Bedingungen für einen Waffenstillstand seien derzeit nicht gegeben, sagte Israels Ministerpräsident Ehud Olmert am Mittwoch. Eine Waffenruhe schloss er aber nicht kategorisch aus. Sollten sich die Umstände verbessern und eine diplomatische Lösung möglich sein, die zur Sicherheit im Süden des Landes beitrage, werde Israel einen Waffenstillstand erwägen, zitierte ein Berater Olmert.

"Die Regierung hat sich für eine Strategie des Erfolges entschieden", sagte ein Regierungsvertreter. Sie verfolge das Ziel, "den vom Gazastreifen ausgehenden Terror" zu stoppen. Dabei zitierte der Sprecher auch Olmert mit den Worten: "Wir haben den Gaza-Einsatz nicht begonnen, nur um ihn - begleitet von denselben Raketenangriffen wie am Anfang - wieder zu beenden." Israel habe in den vergangenen Jahren Zurückhaltung gezeigt und einer Waffenruhe eine Chance gegeben. "Aber die Hamas hat sie gebrochen", zitierte der Regierungsvertreter den Ministerpräsidenten weiter.

Das Sicherheitskabinett hatte in Tel Aviv sechs Stunden lang über die Vorschläge der EU und des Nahostquartetts bestehend aus den USA, Russland, EU und Uno debattiert. Ein EU-Diplomat in Israel kündigte für kommende Woche einen Besuch einer EU-Delegation unter Führung des tschechischen Außenministers Karel Schwarzenberg an. Er soll demnach von seinem schwedischen Kollegen Carl Bildt und der EU-Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner begleitet werden. Tschechien übernimmt am Donnerstag für ein halbes Jahr die EU-Ratspräsidentschaft. Die EU-Außenminister hatten am Dienstag Abend in Paris eine sofortige und dauerhafte Waffenruhe gefordert.

Die israelische Luftwaffe hatte als Reaktion auf den Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen am Samstag mit der massiven Bombardierung von Hamas-Standorten in dem Palästinensergebiet begonnen. Seither starben nach palästinensischen Angaben fast 400 Menschen, etwa 1 900 wurden verletzt. In der gleichen Zeit schlugen auf israelischem Gebiet rund 300 Raketen aus dem Gazastreifen ein, vier Israelis wurden getötet.

Die radikal-islamische Hamas ist nach eigenen Angaben bereit, Vorschläge zu einer Waffenruhe im Gaza-Streifen zu prüfen. Der im Exil in Damaskus lebende Hamas-Anführer Chaled Maschaal erklärte sich nach Angaben des russischen Außenministeriums erneut zu einem Waffenstillstand unter der Bedingung bereit, dass Israel die Blockade des Gazastreifens vollständig aufhebt. Hamas-Vertreter Aiman Taha sagte am Mittwoch: "Wenn wir einen Vorschlag erhalten, werden wir ihn ausloten." Die Hamas unterstütze "jede Initiative, die ein sofortiges Ende der Aggression bringt". Auch Taha verlangte die Aufhebung der Blockade. Internationale Appelle zum Gewaltverzicht auf beiden Seiten verurteilte die Hamas aber. In solchen Appellen würden "Opfer und Henker" gleich behandelt, sagte Hamas-Sprecher Fausi Barhum.

Die Außenminister der Arabischen Liga haben am Mittwoch in einer Sondersitzung über den Konflikt im Gazastreifen beraten. Der saudiarabische Außenminister Saud al Faisal rief die Palästinenser zu Beginn des Treffens in Kairo zur Einheit auf. Die Spaltung zwischen der Hamas und der gemäßigten Fatah habe die israelischen Angriffe erst möglich gemacht. "Dieses schreckliche Massaker wäre nicht passiert, wenn das palästinensische Volk hinter einer Führung geeint wäre, die mit einer Stimme spricht", sagte Al Faisal.

Auch der Generalsekretär der Arabischen Liga hat die Palästinenser aufgerufen, ihre internen Streitigkeiten zu beenden. Die zerstrittenen palästinensischen Gruppierungen sollten "umgehend" eine Versöhnungskonferenz abhalten, erklärte Generalsekretär Amr Mussa am Mittwoch zum Auftakt der Sondersitzung.

Die seit anderthalb Jahren im Gazastreifen herrschende radikalislamische Hamas und die Fatah-Partei von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas, der im Westjordanland regiert, stehen sich feindlich gegenüber.

Die Sondersitzung in Kairo war einberufen worden, um eine gemeinsame Antwort der arabischen Staaten auf die israelische Militäroffensive gegen Ziele im Gazastreifen zu erzielen.

Abbas hat unterdessen den UN-Sicherheitsrat angerufen, schnellstmöglich eine Resolution mit einem Aufruf zum Waffenstillstand im Gazastreifen zu beschließen. Der Palästinenserpräsident versuche in Kontakten mit Mitgliedern des Sicherheitsrates und der Gruppe der arabischen Staaten bei der Uno, eine solche Resolution "so schnell wie möglich" zu erreichen, sagte dessen Sprecher Nabil Abu Rudeina am Mittwoch der Nachrichtenagentur AFP.

Abbas hielt sich in Jordanien auf, wo er im Laufe des Tages mit dem türkischen Regierungschef Recep Tayyip Erdogan zusammentreffen wollte. Der palästinensische Unterhändler Sajeb Erakat sagte, Abbas habe US-Präsident George W. Bush am Dienstagabend über seinen Vorstoß informiert.

Staaten aus aller Welt bemühten sich mittlerweile intensiv um einen Waffenstillstand. Das sogenannte Nahost-Quartett forderte in einer am Dienstag in New York veröffentlichten Erklärung ein Ende der Gewalt. Außenminister und andere diplomatische Vertreter der 27 EU-Staaten hatten bei ihrem Treffen in Paris am Dienstagabend von der Hamas gefordert, ihre Raketenangriffe auf Israel "umgehend und dauerhaft" einzustellen. Israel solle seinerseits den Militäreinsatz im Gazastreifen stoppen, hieß es aus EU-Delegationskreisen.

Bei der Suche nach einem Ausweg aus der Krise prüft die französische Regierung die Möglichkeit eines Besuchs von Staatspräsident Nicolas Sarkozy in Israel. Ein Konvoi von 106 Lastwagen mit Hilfsgütern überquerte am Mittwoch die Grenze von Ägypten in den Gazastreifen. Großbritannien hat den Menschen dort zudem zehn Millionen Dollar an Nothilfen versprochen. Entwicklungsminister Douglas Alexander sagte am Mittwoch, das Geld sollte für Nahrungsmittel sowie Benzin eingesetzt werden. "Hilfe wird in Gaza dringend benötigt", sagte er. Die Situation für die Menschen verschlechtere sich von Stunde zu Stunde, Tausende litten.

In die internationalen Bemühungen um einen Waffenstillstand hat sich auch die Türkei eingeschaltet. Der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan flog am Mittwoch zu Gesprächen mit mehreren Staatschefs in die Krisenregion. Er wolle zunächst mit Syriens Präsident Baschir al-Assad in Damaskus zusammenkommen, sagte Erdogan bei seinem Abflug in Ankara.

Später am Mittwoch sollten die Gespräche mit Abbas sowie dem jordanischen König Abdullah in Akaba folgen. Am Donnerstag sei zudem ein Treffen mit dem ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak und am Samstag mit dem saudischen König Abdullah in Rijadh geplant. "Die Türkei ist extrem besorgt über die menschliche Tragödie im Gazastreifen und die Ausweitung der Gewalt im Nahen Osten. Mit der heute beginnenden Reise wollen wir zum Ende der gefährlichen Entwicklung beitragen", sagte Erdogan.

Der Ministerpräsident wies einen Bericht des Fernsehsenders Al-Arabija zurück, er werde in Damaskus auch den dort lebenden Chef der radikal-islamischen Hamas, Chaled Maschaal, treffen. Er hätte keine Pläne, Hamas-Vertreter in Damaskus zu treffen, sagte der türkische Ministerpräsident.

In Saudi-Arabien ist ein radikaler Islam-Gelehrter festgenommen worden, nachdem er zu Anschlägen auf israelische Einrichtungen in aller Welt aufgerufen hatte. Das berichtete die schiitische Zeitung "Al-Rasad" am Mittwoch. Scheich Awad al-Kurani sei im Süden des Landes festgenommen und zur Vernehmung in die Hauptstadt Riad gebracht worden, hieß es. Offiziell wurde seine Festnahme zunächst nicht bestätigt.

Al-Kurani hatte nach dem Beginn der massiven israelischen Luftangriffe im Gazastreifen am vergangenen Wochenende eine "Fatwa" (islamisches Rechtsgutachten) veröffentlicht, in der es in Bezug auf Israelis heißt: "Es ist legitim, ihr Blut zu vergießen, so wie sie das Blut unserer Brüder in Palästina vergießen." Sein Rechtsgutachten war in den vergangenen Tagen in zahlreichen islamistischen Internetforen diskutiert worden.

Militante Palästinenser haben seit Oktober 2001 rund 10 300 Raketen auf israelische Grenzstädte abgeschossen. Wie das auf die Zählung spezialisierte Sderot Media Center am Mittwoch in der Grenzstadt Sderot weiter mitteilte, sind als Folge dieser Angriffe 32 Israelis getötet worden. Dazu gehören auch die vier Israelis, die seit Beginn der neuen Auseinandersetzung am vergangenen Samstag ums Leben gekommen sind. Weitere 600 Menschen sind den Angaben zufolge in den vergangenen sieben Jahren als Folge des Raketenbeschusses verletzt worden.

Die von militanten Palästinensern verwendeten Raketen haben inzwischen eine Reichweite von bis zu 40 Kilometer. Dadurch sind nach Angaben von Polizeisprecher Micky Rosenfeld eine Million Israelis direkt gefährdet. Die Raketen sind je nach Typ zwischen 1,60 Meter und über zwei Meter lang. Sie sind mit bis zu sechs Kilogramm Sprengstoff und zusätzlich oft auch mit Bolzen, Schrauben und Muttern gefüllt, um möglichst viele Menschen zu töten oder schwer zu verletzen.

Die relative geringe Zahl an Todesopfern im Vergleich zu den abgeschossenen Raketen ist unter anderem auf deren mangelnde Präzision und die fehlende Schussgenauigkeit zurückzuführen. Viele Raketen schlagen auf freiem Feld ein. Viele andere dagegen haben Wohnhäuser, Schulen, Hotels, Verwaltungsgebäude oder Unternehmen im israelischen Grenzgebiet getroffen.

Nach den Worten des stellvertretenden Sprechers im israelischen Außenministerium Andy David ist die geringe Zahl der israelischen Todesopfer vor allem auch auf die Bauvorschriften in Israel zurückzuführen. Danach muss es in allen neuen Gebäuden einen Luftschutzkeller geben. "Alle Israelis, die bei Angriffen ums Leben gekommen sind, haben sich im Freien aufgehalten", sagt David. Man dürfe aber nicht außer Acht lassen, dass jede einzelne der mehr als 10 000 auf Israel abgefeuerten Raketen Panik verbreiten und möglichst viele Opfer verursachen sollte, sagt David.

In Sderot und anderen Grenzorten haben sich viele Israelis in ihre Einfamilienhäuser ein Zimmer als besonders gesicherten Schutzraum eingerichtet. Diese Räume haben zumeist Metalltüren und Fensterläden aus Metall. Schutzräume gibt es auch in mehrstöckigen Gebäuden, weil Bewohner der oberen Etagen sonst nicht genug Zeit haben, sich im Luftschutzkeller in Sicherheit zu bringen. Weil in Sderot viele Wohnblöcke in den 1950-er Jahren gebaut wurden und damit keinen Luftschutzraum im Keller haben, stehen vor den Häusern Bunker auf der Straße. Schulen sind unter anderem mit Betonkonstruktionen über den Dächern gesichert worden.

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