Kaukasus Der wilde Süden bedroht die Stabilität

Seit der russischen Eroberung des Kaukasus vor rund 150 Jahren gilt die Region als permanenter Unruheherd. Während sich die Situation in Tschetschenien weitestgehend beruhigt hat, spitzt sich die Lage in den Regionen Inguschetien und Dagestan zu. Einblicke in eine Krisenregion.

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Ein gewohntes Bild: Die Liste der Kampfeinsätze russischer Truppen im Kaukasus ist lang. Quelle: dpa

MOSKAU. Im Kaukasus herrscht Krieg: Am 6. Dezember umstellen russische "Spezialkräfte" das Haus von Magomed Auschew in Barsuki. Als er herausläuft, wird er mit Kopfschüssen hingerichtet. Mit ihm stirbt ein zweiter Mann. Zwei Tage zuvor verschleppen "Spezialkräfte" den 55-jährigen Machscharip Dschabagijew. Am 3. Dezember ermorden unbekannte Angreifer zwei Polizisten an einem Kontrollpunkt.

Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Tag für Tag. Die Bluttaten ereignen sich nicht da, wo im Sommer Russland und Georgien in einem kurzen, heftigen Krieg zusammenprallten: in den abtrünnigen georgischen Landesteilen Südossetien und Abchasien, die von Moskau unterstützt werden. Dort ist es - von gelegentlichen Scharmützeln abgesehen - weitgehend friedlich. Der Krieg tobt im russischen Mutterland. Vor allem in den Kaukasus-Republiken Inguschetien und Dagestan, die an die georgischen Konfliktregionen angrenzen.

Nach den blutigen Waffengängen in Tschetschenien, wo heute unter der Knute des jungen Präsidenten Ramsan Kadyrow die Lage relativ friedlich ist, gelang es der russischen Führung nicht, die angrenzenden Regionen unter Kontrolle zu halten. Mehr noch: Der brutale russische Feldzug gegen die tschetschenischen Unabhängigkeitsbestrebungen hat die Zündschnur in die Nachbarregionen erst gelegt. Und die Anerkennung Abchasiens und Südossetiens haben Zündstoff hinzugefügt.

Staatliche Repression und das Versagen der örtlichen Eliten haben radikalen muslimischen Gruppen Zulauf verschafft. Hinzu kommt, dass sich die verbliebenen tschetschenischen Freiheitskämpfer in die Nachbarschaft abgesetzt haben. Trotz der Beteuerungen der politischen Führung in Moskau, dass die Phase überwunden sei, in der die Integrität des Landes in Gefahr war: Die Entwicklung des "wilden Südens" wird die Integrität Russlands entscheidend beeinflussen.

Seit der russischen Eroberung des Kaukasus vor rund 150 Jahren gilt die Region mit ihrem Flickenteppich aus Völkern und Sprachen als Unruheherd. Auch die Putin?schen Zentralisierungsversuche haben dort zunächst wenig gefruchtet. Erst nachdem Putin die Wählbarkeit der Gouverneure abgeschafft hatte, gelang es ihm, vier neue Gefolgsleute in der Region zu installieren. "Der Zugriff auf die Machtpositionen hat die Sicherheitslage aber nicht verbessern können", sagt Uwe Halbach, Kaukasus-Experte der Stiftung für Wissenschaft und Politik (SWP).

Im Gegenteil: Mit der Berufung des Ex-KGB-Manns Murat Sjasikow, der 2004 zum Präsidenten Inguschetiens wurde, geriet die Lage zunehmend außer Kontrolle. In seiner Regierungszeit dürften rund 600 Menschen ums Leben gekommen sein, rund 150 verschwanden spurlos - in einer Region, die rund eine halbe Million Einwohner zählt. Zunehmend radikalisieren sich Militante. Und die Sicherheitsorgane reagieren, indem sie schließlich den gleichen Terror gegen die Zivilbevölkerung richten.

Das Fass zum Überlaufen brachte im August die Ermordung des oppositionellen Internetjournalisten Magomed Jewlojew, der am Tag seines Todes mit der gleichen Maschine wie Sjasikow aus Moskau in der inguschetischen Hauptstadt landete und noch auf dem Rollfeld verhaftet wurde. Wenig später war er tot, erschossen. Ein Unfall, so die offizielle Version. Sein Körper wird vor einem Krankenhaus auf die Straße gelegt.

Die nachfolgende Protest- und Gewaltwelle brachte dann auch den Kreml zum Umdenken: Der unbeliebte Sjasikow musste Ende Oktober gehen. Sein Nachfolger Junus-Bek Jewkurow, ein Militär, versucht seitdem einen Ausgleich mit der Opposition und hat gar den Anwalt des ermordeten Jewlojew zu seinem Berater ernannt. Nur: Praktisch hat sich nach Angaben von örtlichen Medien noch nicht viel geändert. So bemängelt Ingushetia.org, dass auch nach der Amtsübernahme des neuen Präsidenten die Verschleppungen weitergehen.

Inguschetien ist nur ein Beispiel: Im angrenzenden Dagestan regt sich ebenfalls Widerstand, oft angefeuert von Moslems, die einer ultra-orthodoxen Auslegung des Korans folgen und von einem Kalifat im Kaukasus träumen.

Anders als beim Tschetschenien-Konflikt sieht Kaukasus-Kenner Halbach die Wurzel der aktuellen Gewalt aber nicht in Unabhängigkeitsbestrebungen, sondern in einem gefährlichen Mix struktureller Probleme: Die höchsten Arbeitslosenraten Russlands treffen auf die höchsten Geburtenraten.

Die lokalen Eliten werden vor allem durch Clanstrukturen und Korruption geprägt. Die Landwirtschaft, die in der Sowjetzeit vielen Menschen Arbeit gab, liegt zumeist am Boden. Diese Region ist am meisten von allen in ganz Russland auf die Förderung durch den föderalen Haushalt angewiesen.

Dazu kommen Konflikte untereinander: Tschetschenien-Präsident Kadyrow, den Moskau an der langen Leine lässt, solange er die Situation stabil hält, hat sicher nichts gegen einen Anschluss Inguschetiens, das sich erst nach dem Zerfall der Sowjetunion abgespalten hatte. Zwischen den Inguscheten und den Nordosseten herrscht wiederum ein Grenzstreit, der blutig ausgetragen wurde und mit der Vertreibung von mehreren Tausend Inguscheten endete. Die russische Unterstützung für die Osseten im Georgien-Krieg hat die Lage daher nicht beruhigt.

"Schon seit 2006 heißt die Herausforderung nicht mehr Tschetschenien", sagt SWP-Experte Halbach. Die jüngste Personalentscheidung des Kremls könne zwar eine gewisse Entspannung bringen. Doch auf absehbare Zeit bleibe die Lage im Süden instabil.

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