Aufschwung der Wirtschaft Das große Konjunkturrätsel

Hafen von Qingdao: Die chinesische Regierung hat während der Coronapandemie rigoros durchgegriffen. Containerschiffe stauten sich vor den Häfen, später auch in Los Angeles und Rotterdam. Die Unternehmen im Westen saßen auf dem Trockenen. Quelle: dpa

Die Stimmung in der Wirtschaft hellt sich auf, die Auftragsbücher der Unternehmen sind randvoll und die Konsumenten sitzen auf riesigen Ersparnissen. Kommt der Aufschwung trotz Krieg und Inflation doch noch in Gang? 

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Rezession, Stagflation, Inflation – es sind die Stichwörter einer erneuten Wirtschaftskrise, die in diesen Tagen und Wochen die Schlagzeilen beherrschen. Während die Krisenpropheten in den Medien Hochkonjunktur haben, gibt es in den Unternehmen erste zaghafte Signale, dass sich die Stimmung zum Besseren wendet. Für die professionellen Konjunkturanalysten in Banken und Instituten, die in diesen Tagen ihre Sommerprognosen vorlegen, ist die Herausforderung daher groß. Selten war es so schwierig wie derzeit, das Wirrwarr an Daten, Stimmungsbildern und politischen Entscheidungen zu deuten und daraus ein plausibles Muster für den weiteren Verlauf der Konjunktur abzuleiten. 

Die Verunsicherung in der Prognostiker-Branche ist denn auch seit Monaten groß. Noch zu Beginn des Jahres frohlockten die Vertreter der Profession, Deutschland steuere auf einen Post-Corona-Boom zu. Durch das Lockern der Corona-Beschränkungen, so ihre These, werde sich die über Monate in Form von Extraersparnissen angestaute Nachfrage Bahn brechen. Die Kassen der Händler sollten klingeln, Veranstalter, Reisebüros und Gaststätten sich vor Kunden kaum retten können. 

Doch was die Auguren nicht auf der Rechnung hatten und auch nicht haben konnten, war der Überfall Russlands auf die Ukraine. Der wurde zum konjunkturellen Game-Changer. Der Krieg und die Angst vor dem Überschwappen der Kämpfe auf Europa legte sich wie Mehltau auf die Psyche von Konsumenten und Investoren. Berichte über Kampfhandlungen beherrschten die Schlagzeilen, der Ölpreis schoss in die Höhe, Sanktionen gegen Russland brachten das auf Präzision getrimmte Uhrwerk der internationalen Arbeitsteilung aus dem Takt, Lieferketten brachen. 

Schneller schlau: Inflation

Abwärtsrevision der Prognosen

Als sei das nicht genug, scheiterte dann auch noch Chinas Kampf gegen das Coronavirus. Die Regierung in Peking wusste sich nicht mehr anders zu helfen, als die von der Pandemie heimgesuchten Regionen, darunter einige der wichtigsten industriellen Zentren des Landes, mit harschen Lockdown-Maßnahmen herunterzufahren. Containerschiffe stauten sich vor den Häfen in Shanghai, später auch in Los Angeles und Rotterdam. Die Unternehmen im Westen saßen auf dem Trockenen, konnten ihre Aufträge aufgrund des Mangels an Vorprodukten nicht abarbeiten. 

Die durch die Billig-Geldschwemme der Notenbanken monetär unterfütterte Nachfrage traf auf ein weltweit eingeschränktes Güterangebot. Die Folge waren rasant steigende Preise. Weil die Löhne bisher nicht im gleichen Tempo zulegen, erodiert die Kaufkraft der Konsumenten. 

Die Volkswirte in Banken und Instituten mussten ihre Wachstumsprognosen in den vergangenen Monaten daher ein ums andere Mal nach unten korrigieren. Die Sorge vor einer Rezession und Stagflation verdrängte die frohe Kunde vom bevorstehenden Boom aus den Überschriften der Konjunkturberichte. 

Die Hoffnung ruht auf dem Winterhalbjahr

Mittlerweile rechnet die Mehrheit der Analysten für das Sommerhalbjahr nur noch mit einer Stagnation der Wirtschaftsleistung. Für das Gesamtjahr sind nicht viel mehr als zwei Prozent Wachstum drin, halb so viel wie noch im vergangenen Herbst erwartet. Das Ifo-Institut geht von 2,5 Prozent, das Kieler Institut für Weltwirtschaft von 2,1 Prozent aus. Die Essener RWI-Forscher senkten ihre Prognose für dieses Jahr gegenüber seiner März-Schätzung sogar von 2,5 auf 1,9 Prozent.

Dennoch haben die Optimisten unter den Auguren die Waffen noch nicht gestreckt. Ihre Hoffnung ruht jetzt auf dem Winterhalbjahr. Dann könnte sich die Konjunktur wieder fangen und – wenn nichts dazwischenkommt – die Wirtschaft im nächsten Jahr mit Raten bis zu drei Prozent Tritt fassen. Der Boom würde gewissermaßen nachgeholt, etwas abgeschwächt vielleicht, aber immerhin. 

Die Hoffnung scheint nicht ganz unbegründet zu sein. So hat sich der Geschäftsklimaindex des Münchner Ifo-Instituts zuletzt verbessert. Die Einkaufsmanagerindizes befinden sich nach wie vor deutlich im Expansionsbereich und auch die Stimmung der Teilnehmer an den Finanzmärkten, die das Mannheimer Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) per Umfragen ermittelt, hat sich im Juni trotz der rasanten Talfahrt an den Aktien- und Anleihemärkten aufgehellt. 

Ob die Stimmungsindikatoren, die der Realwirtschaft um rund ein halbes Jahr vorauslaufen, tatsächlich den Aufschwung vorwegnehmen oder nur ein Fehlsignal senden, hängt von Faktoren ab, die weder die Manager in den Unternehmen noch die Konjunkturexperten voraussehen können. 

Hohe Ersparnisse und riesige Auftragsbestände

Zwar zeigen die Berechnungen der Ökonomen, dass die Konsumenten in Deutschland in der Coronapandemie Überschussersparnisse von rund 200 Milliarden Euro angesammelt haben. Die nominelle Kaufkraft für einen Konsumboom ist also vorhanden. Doch ein erheblicher Teil davon fließt durch die steigenden Preise für Energie ins Ausland ab. Zudem besteht die Gefahr einer erneuten Coronawelle im Herbst, die Hoffnungen auf einen Konsumboom unter sich begräbt. 

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In der Industrie sind die Bedingungen für einen kräftigen Aufschwung im Grunde ebenfalls vorhanden. Die Unternehmen sitzen auf riesigen Auftragsbeständen, die die Produktion für viele Monate sichert, auch dann, wenn keine neuen Bestellungen mehr eingehen. Jedoch fehlt es den Firmen an Vorprodukten und Materialien aus dem Ausland, um die Produktion wie gewünscht hochzufahren. So geben drei von vier vom Ifo-Institut befragte Unternehmen an, die Lieferengpässe behinderten nach wie vor ihre Produktion. 

Da auch in China im Herbst mit neuen Coronawellen gerechnet werden muss, die die Regierung zu weiteren großflächigen Lockdowns veranlassen dürften, besteht die Gefahr, dass sich die Lieferengpässe in den nächsten Monaten eher verschärfen als entspannen. 

Die Hürden für einen Aufschwung sind hoch 

Über all dem hängt als Damoklesschwert das Risiko eines russischen Gaslieferstopps. Sollte Russlands Staatspräsident Wladimir Putin Deutschland den Gashahn zudrehen, wären alle Hoffnungen auf einen verspäteten Aufschwung dahin. Stattdessen stürzte die Wirtschaft in eine schwere Rezession. 

Das hätte weitreichende Konsequenzen auch für den Kurs der Geldpolitik. So wies Christine Lagarde, Chefin der Europäischen Zentralbank (EZB), jüngst darauf hin, dass die avisierten Leitzinserhöhungen unter dem Vorbehalt stehen, dass die Euro-Wirtschaft eben nicht in eine Rezession gerät. Bricht die Konjunktur ein, wäre die geldpolitische Straffung vorbei, bevor sie richtig angefangen hat. Denn dann dürfte sich die EZB allein schon wegen der Sorgen um den Zusammenhalt der Währungsunion für die Rettung der Konjunktur und gegen die Stabilisierung der Preise entscheiden. Die Inflationsspirale drehte sich noch schneller. 

So hängen die Hoffnungen auf einen verspäteten Aufschwung am seidenen Faden. Eine konjunkturelle Belebung im späteren Verlauf des Jahres ist zwar nicht ausgeschlossen. Die Triebkräfte dafür sind in Form der angestauten Nachfrage, turmhohen Auftragsbestände und der weiterhin lockeren Geldpolitik vorhanden. Doch die Hürden, die es zu überwinden gilt, damit sich diese Kräfte entfalten können, sind hoch: Die Lieferengpässe müssen verschwinden, der Ukrainekrieg darf nicht eskalieren, das Coronavirus im Herbst keine Renaissance erleben und die Konsumenten dürfen sich nicht von den hohen Teuerungsraten die Konsumlaune verderben lassen.

Die Aufschwung-Hoffnungen beruhen auf ziemlich viel Wenn und Aber. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie enttäuscht werden.    

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