Bank of Japan-Kritikerin „Europa ist in viel besserer Lage als Japan”

Früher Volkswirtin bei der Japanischen Notenbank (BoJ), geht Sayuri Shirai mit ihrem Arbeitgeber nun hart ins Gericht. Im „Handelsblatt”-Interview erklärt sie, was die BoJ falsch macht – und was Europa noch lernen kann.

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Die japanische Zentralbank wird am Mittwoch (21. September) eine Auswertung der letzten drei Jahre ihrer Geldpolitik vorlegen. Mit ihren Negativzinsen hat sie einen ähnlichen Pfad eingeschlagen wie die EZB. Quelle: dpa

Die Volkswirtin Sayuri Shirai geht Kontroversen nicht aus dem Weg. Bis Ende März 2016 war sie Mitglied im geldpolitischen Ausschuss der Bank von Japan – und stimmte oft gegen den Notenbankchef Haruhiko Kuroda. Am lautesten protestierte sie, als Japans Währungshüter Anfang des Jahres überraschend dem europäischen Vorbild folgend negative Zinsen einführten. Derzeit ist sie Professorin an ihrer Alma Mater, der Keio Universtität, und seit April 2016 Visiting Researcher am Asian Development Bank Institute seit April 2016. Doch sie hat sich nicht im akademischen Elfenbeinturm zur Ruhe gesetzt, sondern setzt nun öffentlich ihren Kampf für eine etwas andere Geldpolitik fort.

Frau Shirai, in Europa und Japan stehen die Zentralbanken in der Kritik. Auch Sie gehen stark mit der gegenwärtigen Politik der Bank von Japan ins Gericht, die am 21. September die letzten drei Jahre Geldpolitik bewertet. Wie wirksam ist geldpolitische Lockerung noch?
Sayuri Shirai: Im Falle Japans nähert sich unkonventionelle Geldpolitik ihrem Limit, aber nicht in Europa. Europa hat noch Raum.

Warum?
Ein wichtiger Grund ist die Größe des Kaufprogramms von Regierungsanleihen. Derzeit glauben viele Investoren, dass die Europäische Zentralbank (EZB) noch für einige Zeit Staatsanleihen kaufen kann. Denn sie hat bisher nur zehn bis 15 Prozent der ausstehenden Staatsanleihen in der Euro-Zone gekauft. Die Bank von Japan besitzt hingegen schon fast 40 Prozent der ausstehenden japanischen Staatsanleihen (JGBs). Und der Anteil steigt weiter schnell. Doch mit der wachsenden Dominanz der Notenbank ist die Liquidität des JGB-Markts deutlich gefallen.

Aber ist Europa nicht in einer ähnlichen Situation wie Japan?
Tatsächlich ist Europa in einer weit besseren Position als Japan. Um einen wirtschaftlichen Aspekt zu nennen: Die Inflationserwartungen fallen auch in Europa, aber sie sind immer noch viel höher als in Japan. Und auch wenn die Inflationsraten in Europa und Japan um null Prozent liegen, steigen in Europa immerhin die Preise für Dienstleistungen im Jahresvergleich um ein Prozent. Aber sie tun es nicht in Japan. Und steigende Preise im Dienstleistungssektor sind wichtig, um ein Inflationsziel von zwei Prozent zu erreichen, das unter Zentralbanken derzeit als erstrebenswert gilt.

Warum geht es in Japan nicht mehr voran, obwohl die Notenbank so viel Geld druckt wie nie?
Die Öffentlichkeit in der Euro-Zone akzeptiert ein Inflationsziel von bis zu zwei Prozent mehr oder weniger. Aber in Japan gibt es keine Unterstützung für das zweiprozentige Inflationsziel der Bank von Japan. Und dies liegt teilweise daran, dass die Japaner sich in den vergangenen 20 Jahren an nicht oder leicht fallende Preise mit nur wenig Lohnwachstum gewöhnt haben.

Sie deuteten an, dass auch andere Faktoren gibt.
Ja, und die Unterschiede sind wichtig für die Auswirkungen der Geldpolitik. Erstens ist die Reihenfolge der Geldpolitik anders. Die EZB führte im Juni 2014 zuerst negative Zinsen ein. Denn sie glaubte, dass eine Lockerung der Geldpolitik notwendig war, um den Fall der Inflationserwartungen zu stoppen. Aber weil sie den Trend nicht stoppen konnten, kündigte sie im Januar 2015 ihr Kaufprogramm von Staatsanleihen an. Das Programm ist daher noch jung.

Und wie war die Reihenfolge in Japan?
Sie war genau umgekehrt. Japan startete den großangelegten Kauf von japanischen Staatsanleihen im April 2013 und erhöhte es im Oktober 2014 drastisch. Erst im Januar führte sie dann völlig überraschend eine negative Zinspolitik (Nirp) ein, obwohl sie diese bis dahin immer strikt abgelehnt hatte.

Worin liegt das Problem?
Erstens war die Entscheidung ein grober Fehler in der Kommunikationspolitik. Denn die Inverstoren glauben nun, dass die geldpolitische Lockerung ihre Grenze erreicht. Vorhersehbar löste dies Verwirrung auf den Finanzmärkten aus und führe zu stark schwankenden Kurse in den Aktien,- Anleihe- und Devisenmärkten. Dies war der erste Grund, warum ich im geldpolitischen Ausschuss der Bank von Japan im Januar sehr stark gegen die Entscheidung opponiert habe.

Und der zweite Grund?
Die Negativzinsen haben in Japan weit schlimmere Nebenwirkungen als in Europa. Eine Folge sind ernste Auswirkungen auf die Gewinne von Banken. Der japanische Bankensektor ist überfüllt und kämpft mit geringer Kreditnachfrage. Dies drückt sich darin aus, dass die Banken nur 60 Prozent ihrer Einlagen verleihen können. Daher herrscht ein harter Wettbewerb um gesunde Kreditnehmer. Der Wettbewerb hat die Kreditzinsen in den vergangenen Jahren kontinuierlich gesenkt, deutlich unter die Werte in Europa. Durch die Minuszinsen sinkt die Kreditspanne der Banken weiter. Nicht viele Menschen in Europa verstehen das.


„Die Bank of Japan sollte jetzt gar nichts machen.”

Aber Sie deuteten an, dass dies noch nicht alles ist.
Die Minuszinsen erschweren auch die JGB-Käufe durch die Notenbank. Die Liquidität in Europas Bondmärkten ist nicht nur viel höher, weil die EZB einen geringen Anteil an Staatsanleihen kauft. Sie kann die Anleihen auch von ausländischen Investoren kaufen, die im Schnitt 50 Prozent der Staatsanleihen in der Euro-Zone besitzen. Aber in Japan werden mehr als 90 Prozent der JGBs von heimischen Investoren gehalten. Zudem konzentriert sich der JGB-Besitz extrem bei Banken und institutionellen Investoren.

Aber gilt der hohe Anteil inländischer Investoren nicht generell als ein Faktor der Stabilität Japans?
Schon, aber daher gibt es auch nur wenige Verkäufer, an die sich die BoJ wenden kann. Und die Finanzinstitute halten JGBs ja nicht ohne Grund. Wegen der geringen Kreditnachfrage haben Banken die Ersparnisse der Japaner oft in JGBs investiert. Damit sie die verkaufen können, bot ihnen die BoJ einen Anreiz, nämlich leicht positive Zinsen auf die Konten der Banken bei der Notenbank. So konnte der Sparüberhang noch etwas Rendite abwerfen.
Und was hat sich durch die Minuszinsen geändert?
Es ist nun sehr viel schwieriger für die BoJ, JGBs zu kaufen. Und sie muss höhere Preise als in der Vergangenheit zahlen.

Aber die BoJ beansprucht, damit deflationäre Erwartungen bekämpfen zu wollen.
Doch genau das Gegenteil passiert. Die privaten Haushalte wie die Unternehmen fragen sich, ob nicht etwas ernsthaft schiefläuft mit Japans Wirtschaft. Daher konsumieren oder investieren sie nicht deutlich mehr, sondern halten sich zurück. Auch die Kreditnachfrage erhöht sich nicht deutlich. Wenn die BoJ schon Minuszinsen einführen wollte, hätte sie es nicht überraschend machen dürfen, sondern als Teil einer gut durchdachten Kommunikationsstrategie.

Die Rückkehr der Deflation nach einem kurzen Inflationsschub und der Höhenflug des Yen hat den Zweifel an Japans Geldpolitik verschärft. Die BoJ hat sogar eine Bewertung ihrer Geldpolitik versprochen. Was wird die BoJ Ihrer Meinung nach am Mittwoch tun?
Sie wird wahrscheinlich den Rahmen ihrer aggressiven Lockerungspolitik beibehalten. Jedoch wird sie möglicherweise ihren zeitlichen Fahrplan aufgeben, nach dem sie das zweiprozentige Inflationsziel während des Fiskaljahres 2017 erreichen wollte, das im März 2018 endet. Zusätzlich könnte sie den Minuszins weiter senken, weil nicht mehr viele andere geldpolitische Instrumente übrigbleiben.

Warum steckt Kuroda in einer Falle?
Seit Kuroda im April 2013 Notenbankchef wurde, hat er konstant die starke Botschaft gesendet, alles zu tun, um das Inflationsziel rasch zu erreichen. Wenn die Bewertung der BoJ also ergibt, dass das Ziel verschoben werden muss oder der geldpolitische Pfad in Frage gestellt wird, erwartet der Markt natürlich eine Reaktion. Ansonsten würden die Investoren denken, dass die Notenbank ihr Versprechen bricht.

Und warum wird die Notenbank die Zinsen senken und nicht mehr Anleihen oder Aktien kaufen?
Im Juli hat die japanische Notenbank bereits den Kauf von Indexfonds für japanische Aktien drastisch erhöht. Und da die Bondkäufe stärkere Nebenwirkungen haben, bleibt realistischerweise nur eine weitere Zinssenkung. Dies würde zwar laute Kritik hervorrufen. Aber dies wird von der Logik der Notenbank diktiert. Nur wäre dies nicht, was die BoJ eigentlich machen sollte.

Was schlagen Sie vor?
Die BoJ sollte jetzt gar nichts machen. Dies ist die letzte Chance für die Notenbank zuzugestehen, dass das Inflationsziel nicht schnell erreicht werden kann, da weder die Gehälter noch die Erwartungen auf Lohnerhöhungen dauerhaft steigen. Weder Firmen noch Verbraucher akzeptieren daher derzeit eine Inflation von zwei Prozent.

Und stattdessen?
Stattdessen sollte die BoJ erklären, dass das Inflationsziel wichtig ist, aber dass sie vorerst ein Inflationsziel von sagen wir mal einem Prozent verfolgt. Erst wenn das dauerhaft erreicht wäre, könnte das Ziel nach einer ausführlichen öffentlichen Debatte angehoben werden. Aber am wichtigsten ist, dass sie ihre Geldpolitik ändert und mit dem Tapering (Drosselung) startet, da die Umsetzung der JGB-Käufe immer schwieriger wird.


Japans Lehre für Europa: „Nutzt nicht alle Instrumente auf einmal”

Wie soll dieses Tapering, also die Senkung des Kaufprogramms, aussehen?
Die BoJ sollte Ende dieses oder Anfang nächsten Jahres das Volumen ihres Kaufprogramms von derzeit 80 Billionen Yen pro Jahr auf 60 bis 70 Milliarden Yen senken. Doch um ein ähnliches Überschießen der Zinsen wie nach dem Start des Taperings der US-Notenbank im Mai 2013 zu vermeiden, schlage ich vor, diesen Schritt mit einer Senkung der negativen Zinsen zu verbinden.

Aber Sie waren doch gegen Minuszinsen. Warum wären sie in diesem Falle dafür?
In diesem Fall würden sie dafür sorgen, dass die Zinsen für Anleihen mit kürzerer Laufzeit nicht zu stark ansteigen, während die für mittel- und langfristige JGBs steigen würden. Dies würde alle glücklicher machen, besonders Japans Banken und Lebensversicherer. Denn höhere Zinsen würden ihnen erlauben, in langfristige Anleihen zu investieren und ihre Profite zu erhöhen. Ich kann mir keine andere Option vorstellen.

Für viele Deutsche sind die Instrumente, die Sie nennen, allesamt tabu. Einige sorgen sich, dass Europa wie Japan wird. Andere kritisieren, dass diese Geldpolitik Regierung einen Anreiz gibt, ihre Ausgabendisziplin zu lockern. Aber was wird Deutschland machen, wenn die EZB ihr Kaufprogramm für Regierungsanleihen lockert? Selbst wenn Deutschland opponiert, muss es folgen, richtig? So ein Schritt würde wohl Immobilienblasen in Deutschland speisen.
Das denke ich auch. Aber Deutschlands Wirtschaft steht recht gut da, in vielen Punkten sogar weit besser als Japans. Wie in Japan herrscht in Deutschland nahezu Vollbeschäftigung. Aber dafür ist das Wachstum höher. Und in Deutschland steigen sogar die Gehälter um zwei bis drei Prozent, hier nur unter einem Prozent. Selbst die potenzielle Wachstumsrate ist mit 1,5 Prozent viel höher. In Japan schätzt die Notenbank sie nur auf 0,2 Prozent.

Was kann Europa von Japan lernen?
Vielleicht sollte die EZB über eine bessere Kommunikation mit den Marktteilnehmern nachdenken. Die große Kluft zwischen der BoJ und der Wahrnehmung der Märkte führt wahrscheinlich zu den großen Spekulation vor geldpolitischen Treffen. Und dies schafft volatile Devisen- und Aktienmärkte. Eine andere Lehre aus Japan ist: Nutzt nicht alle Instrumente auf einmal.

Wie kann Europa aus dieser Lage herauskommen?
Im Moment will die EZB vor allem vermeiden, dass die Euro-Zone wie Japan in eine lange Deflation fällt. Daher ist sie sehr daran interessiert, ihre lockere Geldpolitik fortzuführen. Aber es gibt die Chance für eine Rückkehr der Inflation, allerdings unter anderen Bedingungen als in der Vergangenheit.

Und die wären?
Früher wurde das zweiprozentige Inflationsziel durch Preissteigerung in den Ländern der Peripherie erreicht. Aber die leiden unter dem Erbe von Bankenkrisen, niedrigem Wachstum und geringer Nachfrage. Jetzt verlässt sich die EZB auf Kernländer wie Deutschland. Mit höheren Gehältern könnte in Deutschland die Inflation steigen. Wenn dies auch in anderen Kernländern der Eurozone passiert, ist es für die EZB vielleicht in Ordnung, mit einer Normalisierung der Geldpolitik zu beginnen.

Frau Shirai, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

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