Claus Weselsky „Der Anteil der Dinge, die bei der Bahn nicht funktionieren, ist einfach zu groß“

Claus Weselsky Quelle: imago images

Der Bahn und ihren Kunden stehen turbulente Monate bevor. Der Chef der Lokführergewerkschaft GDL, Claus Weselsky, hält einen Doppelstreik für denkbar, rügt die Personalpolitik der Bahn – und sagt, warum er auf das 49-Euro-Ticket verzichtet.

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WirtschaftsWoche: Herr Weselsky, seit Ende Februar verhandelt die Gewerkschaft EVG mit der Bahn über einen neuen Tarifvertrag – im Herbst macht Ihre GDL das Gleiche. Wäre es nicht an der Zeit, die Gewerkschaftskonkurrenz zu beenden und gemeinsam zu verhandeln?
Claus Weselsky: Nein. Unmöglich. Die beiden Organisationen sind strukturell und inhaltlich viel zu verschieden. Und das vom Gesetzgeber beschlossene Tarifeinheitsgesetz hat den Brunnen regelrecht vergiftet. Es gibt bis heute kein vernünftiges Procedere, wie sich das Gesetz in den Betrieben umsetzen lässt. Ich bin im Übrigen davon überzeugt, dass die GDL die besseren Tarifverträge macht...

...und den Bahnkunden kann es passieren, dass im Frühjahr erst die EVG streikt und wenige Monate später dann auch noch die GDL.
Das ist möglich. Die Arbeitgeber haben es aber in der Hand, ein solches Szenario zu verhindern.

Fahren Sie selbst gern mit der Bahn?
Ich nehme oft die Bahn – aber nicht mehr besonders gern. Ich fahre mittlerweile mindestens eine Stunde früher los, um pünktlich zu Terminen zu kommen. Vor allem, wenn man umsteigen muss, ist das Risiko groß, irgendwo zu stranden. Es geht zwar auch anders: Als ich jüngst von Berlin nach Köln gefahren bin, war der Zug auf die Minute pünktlich. Doch insgesamt ist der Anteil der Dinge, die bei der Bahn nicht funktionieren, einfach zu groß. Das spielt jahrelanges Managementversagen eine Rolle, aber auch der dramatische Personalmangel.

Die Bahn will in diesem Jahr über 25.000 Leute einstellen – nach gut 28.000 im vergangenen Jahr. Müssen Sie nicht anerkennen, dass der Bahnvorstand beim Personal den Hebel umgelegt hat?
Ich klatsche da nicht mit. Der dramatische Personalmangel wird durch die neuen Stellen nicht behoben, denn man darf nicht vergessen, dass den Neueinstellungen ja auch massive altersbedingte Abgänge gegenüberstehen. Der Marktführer Deutsche Bahn hat über Jahrzehnte vor allem bei der Ausbildung viel zu wenig getan. Die Bahn steht für rund 60 Prozent des Marktes im Eisenbahnverkehr, hat aber nicht 60 Prozent der Azubis eingestellt und die Ausbildungszahlen erst seit wenigen Jahren wieder nach oben gefahren. Auch deshalb fehlen jetzt schätzungsweise 1500 Lokomotivführer in Deutschland, darüber hinaus viele Handwerker und Fahrdienstleiter. Nur in der Verwaltung herrscht kein Mangel. Darf ich einen Wunsch äußern?

Bitte sehr.
In den mittleren und oberen Führungsetagen der Bahn sitzen, was wenig bekannt ist, eine Reihe von Personen mit Lokführerlizenz. Warum setzt man die bei hohen Krankenständen nicht auch mal ins Führerhaus? Ein Vorbild dafür gibt es schon. Der Geschäftsführer der Ostdeutschen Eisenbahn GmbH, Lars Gehrke, fährt Züge bisweilen selber, wenn kurzfristig ein Lokomotivführer ausfällt. Der Mann macht sogar Nachtschichten.

Vielleicht geht es künftig ja auch anders. Allein die Deutsche Bahn will in diesem Jahr die Rekordzahl von 5500 Auszubildenden und dualen Studenten einstellen...
...eine gute Zahl, aber auch da muss man genau hingucken, in welchen Bereichen das erfolgt. Und bei Lokomotivführern kommt ein besonderes Problem hinzu: Derzeit bestehen nur gut 50 Prozent der Nachwuchskräfte ihre Abschlussprüfung.

Dann sagen Sie doch mal, wo die neuen Leute für die Bahn realistischerweise herkommen sollen.
Es reicht nicht aus, den Leuten mehr Geld zu zahlen, wir müssen auch die Arbeitsbedingungen verbessern – vor allem, was das derzeitige Schichtsystem betrifft. Das gilt nicht nur für Lokomotivführer, sondern auch für Fahrdienstleiter und in den Werkstätten. Das Schichtsystem bei der Eisenbahn sieht Dienstbeginne und Dienstenden zu jeder Tages- und Nachtzeit vor. Zudem arbeiten die Kollegen teilweise an sechs oder mehr Tagen am Stück, wobei die Schichtlänge zwischen acht und zwölf Stunden variiert. Dazu kommt noch die regelmäßige Arbeit an Wochenenden und Feiertagen. Man muss es klar sagen: Das Schichtsystem der Bahn schreckt viele junge Menschen ab.

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von Marcus Werner

Was ist die Alternative? Der Lokführer kann ja nicht mitten auf der Strecke aussteigen, weil gerade seine acht Stunden vorbei sind.
Nein, aber die Beschäftigten brauchen mehr Planungssicherheit, damit ein Familienleben möglich ist. Bei DB Cargo, wo fast nur nachts gefahren wird, gibt es acht bis zehn Tage zusätzlichen Urlaub für die Beschäftigten. Solche Regelungen sollte die Bahn ausbauen. Vorstellbar sind Schichtpläne, die beispielsweise für den Zeitraum eines gesamten Jahres Schichten und freie Tage verbindlich regeln. Abweichungen sind dann nur bei Zustimmung des Arbeitnehmers möglich. Darüber hinaus muss die Arbeitszeit für die Eisenbahner schrittweise abgesenkt werden, Schichtlängen begrenzt und Ruhetage deutlich verlängert werden. Das würde die Belastung der Arbeitnehmer tatsächlich reduzieren und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf fördern.

Ab Mai kommt eine neue Herausforderung für die Bahn hinzu: das 49-Euro-Ticket. Greifen Sie zu?
Nein. Ich habe eine Bahncard 100, 1. Klasse.



Finden Sie das Ticket trotzdem eine gute Idee? Immerhin gibt es für die Menschen erstmals die Möglichkeit, mit einem Ticket bundesweit den gesamten Nahverkehr zu nutzen.
Zunächst mal: Ich finde das Ticket zu billig und hätte mir einen Preis von mindestens 69 Euro gewünscht. Und wie so oft in der Politik, wird hier das Pferd von hinten aufgezäumt. Die Leute bekommen einen Anreiz, mehr Bahn fahren, obwohl das System schon heute völlig überlastet und pannenanfällig ist. Es fehlen zum Beispiel massenweise Bahnsteige. Der richtige Weg wäre gewesen, erst die Bahninfrastruktur zu ertüchtigen und danach die Anreize zum Bahnfahren zu erhöhen. Jetzt ist es anders gekommen – und die Verkehrsunternehmen müssen alles tun, um ein Chaos zu verhindern.

Zum Beispiel?
Wir müssen alles hervorzaubern, was mehr Kapazität ins Netz bringt. Dazu gehört etwa, die Weichenkapazität zu erhöhen und mehr Überholgleise in Betrieb zu nehmen. Die sind vielerorts noch vorhanden, nur leider abgeklemmt und zugewachsen. Im Nahverkehr müssen Bahnsteige verlängert werden, damit längere Züge halten können. Im Übrigen halte ich auch eine grundlegende Reform der regionalen Verkehrsverbünde für notwendig. Diese sind in der bisherigen Größe und Struktur nicht mehr notwendig.

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