Deutsche Konjunktur „Bald könnten auch die Löhne zum Inflationstreiber werden“

Volker Wieland Quelle: imago images

Der Wirtschaftsweise Volker Wieland rügt die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank, hält Zinserhöhungen 2022 für geboten – und rechnet ab der zweiten Jahreshälfte mit spürbar steigenden Löhnen.

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Volker Wieland, 55, ist Professor für Monetäre Ökonomie an der Universität Frankfurt und seit 2013 Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.

WirtschaftsWoche: Herr Wieland, die monatliche Inflationsrate in Deutschland hat den höchsten Stand seit rund 30 Jahren erreicht. Glauben Sie, die Europäische Zentralbank (EZB) nimmt dies mittlerweile ernst?
Volker Wieland: Zumindest hat die EZB ihre Inflationsprognose drastisch nach oben korrigiert. Bisher hatte sie stets kommuniziert, die Teuerungsrate werde 2022 unter der Zielmarke von zwei Prozent liegen. Jetzt geht man in Frankfurt von 3,2 Prozent aus. Eine derart starke Revision hat es in der Geschichte der EZB noch nie gegeben. Das ist bemerkenswert. Allerdings ist ebenso bemerkenswert, dass die EZB trotzdem ihre expansive Geldpolitik fortzuführen gedenkt und noch bis Ende 2022 netto Staatsanleihen zukaufen will. Eine erstaunliche Reaktion, wenn man gerade die eigene Inflationsprognose derart massiv angehoben hat.

Sollte die EZB dem Beispiel der amerikanischen Fed folgen und bereits 2022 die Zinswende einleiten – anstatt erst 2023 oder gar 2024?
Ja. Der Ausschluss einer möglichen Zinserhöhung 2022 ist schwer zu begründen und unnötig. Die EZB hat es in ihrer bisherigen Außenkommunikation jedenfalls nicht überzeugend dargelegt. Und es erstaunt mich, dass EZB-Chefin Christine Lagarde ihren expansiven Kurs damit rechtfertigt, man werde 2023 und 2024 wieder unter dem Inflationsziel von zwei Prozent liegen. Angesichts der  Fehleinschätzungen zur Inflationsentwicklung ist es sehr gewagt, die aktuelle Geldpolitik an Prognosen zu koppeln, die derart weit in die Zukunft reichen. Studien zeigen, dass es den Stabilisierungserfolg der Geldpolitik gefährden kann, wenn eine Notenbank ihre Zinsstrategie an Inflationsprognosen ausrichtet, die mehr als ein Jahr in der Zukunft liegen.

Ein wichtiger Faktor für die Inflation sind die Löhne. Während der Pandemie 2020 und 2021 waren die Tarifabschlüsse meist moderat. Glauben Sie, dass dies 2022 so bleibt?
Das Risiko, dass bald auch die Löhne zum Inflationstreiber werden, steigt in Deutschland und Europa gleichermaßen. Tarifverhandlungen sind ein nachlaufender Indikator, die hohe Inflation wird daher in die kommenden Tarifverhandlungen einfließen. Die Gewerkschaften dürften einiges daran setzen, nach den Reallohnverlusten 2021 diesmal einen realen Kaufkraftgewinn für die Beschäftigten herauszuholen. Zugleich wird auch die zunehmende Personalknappheit die Löhne nach oben treiben. Wo Fachkräfte fehlen, müssen Unternehmen durchaus über Tarif bezahlen. Die Effektivlöhne könnten daher 2022 noch stärker steigen als die Tariflöhne. Eine Zunahme der Lohndrift ist wahrscheinlich.

(Unter anderem die Gewerkschaft IG Metall will in der kommenden Tarifrunde steigende Reallöhne durchsetzen. Lesen Sie hier die ganze Exklusivmeldung.)

Wie groß ist die Gefahr einer sich selbst verstärkenden Lohn-Preis-Spirale? 
Es spricht viel dafür, dass wir zeitverzögert eine ähnliche Entwicklung wie in den USA erleben. Dort steigen Güterpreise, Mieten und Löhne schneller als in Europa, auch die Kerninflation legt deutlich zu. Ich denke, wir werden in Deutschland vielleicht schon in der zweiten Jahreshälfte 2022, aber spätestens 2023 mit deutlich mehr Lohndruck rechnen müssen. Viele Unternehmen müssen dann die Preise erhöhen, um die höheren Löhne zu finanzieren. Und das kann sich dann immer mehr verstärken. Dies ist aber nicht der Fehler der Gewerkschaften oder der Arbeitgeber.

Sondern?
Es ist der Fehler der Geldpolitik, die eine anhaltend hohe Inflation zulässt. Es wäre angesichts der guten Auftragslage der deutschen Wirtschaft absurd zu fordern, die Arbeitnehmer müssten grundsätzlich Kaufkraftverluste hinnehmen.



Lässt sich die heutige Situation mit der Lohn-Preis-Spirale der Siebzigerjahre vergleichen?
Nur bedingt. Auch damals schoss die Staatsverschuldung zwar nach oben. Damals kamen ausgeprägte angebotsseitige Ölpreisschocks hinzu. Heute ist es der Anstieg der Energiepreise wohl überwiegend der wirtschaftlichen Erholung und Nachfrage zuzuschreiben. Wichtig ist, die Geldpolitik hat damals anders funktioniert. Dass sie sich an einem Inflationsziel orientierte, war nur in wenigen Ländern der Fall. Auch fehlte den meisten Zentralbanken die politische Unabhängigkeit. Die Deutsche Bundesbank hatte da eine Vorreiterrolle. Die Lohn-Preis-Spirale fiel auch deshalb in vielen Ländern heftiger aus als bei uns. Deutschland war damals das einzige G7-Land, wo die Inflation nicht zweistellig wurde: Wir lagen bei sechs bis sieben Prozent.

Mehr zum Thema: Die Inflation könnte sich zum Jahresende etwas abgeschwächt haben. Doch in den kommenden Monaten wollen viele Unternehmen ihre Preise erhöhen. Der Druck von Ökonomen auf die EZB wächst, die Zinswende früher einzuleiten.

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