Deutschland braucht einen Perspektivwechsel Der Wachstumsfetisch kann den Westen nicht retten

Quelle: imago images

Während Donald Trump den Welthandel zerschmettert, triumphieren Populisten und Autokraten. Dem Westen fällt außer Wirtschaftswachstum kaum ein Gegenrezept ein – dabei ist genau dieser Fetisch Teil des Problems.

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Es sind wilde Zeiten. Da brüskiert Donald Trump mal eben per Tweet die mächtigsten Wirtschaftsführer der Welt. Da eilt Bundeskanzlerin Merkel ins Fernsehen, um hektisch Rettungslinien zu ziehen. Da inszenieren zwei exzentrische Politiker in einer Art diplomatischer Reality-Show einen Abrüstungsdeal. Und gleichzeitig frohlocken autokratische Herrscher in Asien und Russland, dass es nun endlich vorbeigeht mit Liberalismus und Demokratie.

Lieb gewonnene Gewissheiten wanken längst. Dass der Westen im Ringen der Weltmächte weiterhin den Ton angeben wird, ist fraglich. Dass Menschen auf der ganzen Erde nach freiheitlichen Ordnungen streben, ist mindestens ungewiss. Und vom „Ende der Geschichte“ im Wettstreit der politischen Systeme hat man auch lange nichts mehr gehört.

Vor allem in den Ländern des Westens drängt Unsicherheit ins System. In großen Teilen der Bevölkerung herrscht Angst. Angst vor dem eigenen Abstieg, Angst vor Migration, Angst vor Digitalisierung, Robotern und Künstlicher Intelligenz. Dazu mischen sich Ressentiments über Politik, Medien, Wissenschaft und Kunst. Über das Establishment.

Das alles spielt Populisten, Autokraten und Exzentrikern in die Hände. Egal ob AfD, Front National oder Lega Nord, ob Donald Trump, Kim Jong Un oder Wladimir Putin: Sie alle schweben aktuell auf einem Hoch. Sie alle nutzen eine Erkenntnis. Sie arbeiten mit Gefühlen statt Zahlen. Mit Stimmungen statt Wachstumsziffern.

Genau das verstehen Demokraten und Liberale nicht. Sie versuchen die Angriffe auf ihre Systeme noch immer mit alten Formeln abzuwehren. Mit Jubelfeiern auf zwei Prozent Wirtschaftswachstum, mit höheren Grundfreibeträgen, Recht auf Brückenteilzeit und Verweisen auf kraftstrotzende Konjunkturindikatoren.

Doch diese Formeln funktionieren nicht mehr. Der Grund dafür liegt tief in der menschlichen Psyche. In jenen Hirnarealen, die für Glück und Zufriedenheit zuständig sind. Wie diese Areale funktionieren, ergründen Wissenschaftler seit langem. Sie wollen wissen, wie Zufriedenheit und Glück entstehen – und absolute Erkenntnisse fehlen noch immer. Was sie aber wissen ist, dass Menschen in Costa Rica glücklicher und zufriedener sind als in Singapur – obwohl die Bürger in Singapur pro Jahr vier Mal so viel erwirtschaften wie die in Costa Rica.

Die Forscher erklären diesen Befund damit, dass Zufriedenheit nur zu einem kleinen Teil von handfesten Dingen wie Gehalt, Designermöbeln oder schnellen Autos abhängt. Und schon eher von Erwartungen und deren Erfüllung. Blöderweise passen sich diese Erwartungen an. Wer es geschafft hat, sich einen Kleinwagen zu leisten, will bald darauf den schnellen Sportwagen haben. Wer genügend Geld für ein ordentliches Restaurant hat, liebäugelt irgendwann mit Sterne-Gastronomie.

Wachstum alleine wird also wenig ausrichten gegen Ängste, Sorgen und Ressentiments. Im Gegenteil: Fließen die Zugewinne ungleich ab, schüren sie Erwartungen, die nicht erfüllt werden. Das Ergebnis besteht in Unzufriedenheit. Nicht im Glück.

Diese Unzufriedenheit nehmen viele Politiker, Journalisten und Manager kaum noch wahr. Deswegen haben Populisten so einfaches Spiel. Ihre Stärke ist das fehlende Interesse an den Ängsten und Sorgen der Bürger. Dass sie längst Teil der Blase sind, die sie anprangern, fällt selten auf.

Zur Freude der Populisten und Autokraten

Die reflexhafte Fixierung auf das Wachstum wird in dieser Gemengelage zum Problem. Zum einen versperrt sie den Blick auf Alternativen. Ideen, die kein Wachstum versprechen, werden weggewischt. Ob wachstumsförderliche Politik die Zufriedenheit der Bürger überhaupt steigert, wird oft gar nicht mehr hinterfragt.

Noch viel wichtiger ist, dass der Wachstumsfetisch die wirklich wichtigen politischen Fragestellungen unter sich begräbt. Ob eine Schnellstraße gebaut wird oder ein Radweg, ob Windräder aufgestellt werden oder Kohlekraftwerke am Netz bleiben, ob Flüchtlinge an der Grenze zurückgewiesen werden oder ins Land kommen dürfen: Viele solcher Fragen verschwimmen im Schatten der Wachstumsmaxime oder werden aus dessen Sichtweise beurteilt.

Exzentriker wie Donald Trump haben das erkannt. Ob ihre Politik die eigene Wirtschaft langfristig stärkt oder den globalen Handel zerstört, ist ihnen egal. Hauptsache, sie erreichen die Gefühle ihrer Anhänger. Hauptsache, sie treffen die Stimmung im Land. Donald Trump appelliert an die Wut im Bauch und nicht an die Kühle im Kopf.

Aus dieser Analyse folgt nicht, dass solche Politik nachahmenswert ist. Und sie bedeutet genauso wenig, dass Politiker auf Wachstum pfeifen und sich einem Wohlfühlsozialismus hingeben sollten. Sie zeigt nur, dass Perspektivwechsel helfen. Dass Wachstum nicht alternativlos – und im Alleingang keine Rettung für wankende Demokratien und den Liberalismus ist.

Wie Politik auch anders funktionieren kann, beweist gerade die Interrail-Initiative der EU. Sie spendiert 15.000 Bahntickets für 18-Jährige. Das kostet nur Geld und bringt unter wirtschaftlichen Aspekten wenig. Dafür erzeugt es ein europäisches Gefühl. Noch ist das Projekt zu klein gestrickt und bevorteilt vor allem Jugendliche, die sich auf so einer Reise auch die Unterkünfte leisten können. Aber es ist ein Ansatz. Ganz ähnlich könnte auch über Umweltpolitik, Verkehr oder Einwanderung nachgedacht werden.

Die Zukunft des westlichen Modells wird davon abhängen, ob solche Sichtweisen Einzug in den Diskurs nehmen oder weiterhin verdrängt werden vom eindimensionalen Wachstumsmodell. Wer dem Geraune über leicht nach unten korrigierte Wachstumsprognosen in den vergangenen Wochen gelauscht hat, ahnt böses. Die Populisten und Autokraten dagegen freuen sich schon.

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