Deutschland braucht einen Perspektivwechsel Der Wachstumsfetisch kann den Westen nicht retten

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Zur Freude der Populisten und Autokraten

Die reflexhafte Fixierung auf das Wachstum wird in dieser Gemengelage zum Problem. Zum einen versperrt sie den Blick auf Alternativen. Ideen, die kein Wachstum versprechen, werden weggewischt. Ob wachstumsförderliche Politik die Zufriedenheit der Bürger überhaupt steigert, wird oft gar nicht mehr hinterfragt.

Noch viel wichtiger ist, dass der Wachstumsfetisch die wirklich wichtigen politischen Fragestellungen unter sich begräbt. Ob eine Schnellstraße gebaut wird oder ein Radweg, ob Windräder aufgestellt werden oder Kohlekraftwerke am Netz bleiben, ob Flüchtlinge an der Grenze zurückgewiesen werden oder ins Land kommen dürfen: Viele solcher Fragen verschwimmen im Schatten der Wachstumsmaxime oder werden aus dessen Sichtweise beurteilt.

Exzentriker wie Donald Trump haben das erkannt. Ob ihre Politik die eigene Wirtschaft langfristig stärkt oder den globalen Handel zerstört, ist ihnen egal. Hauptsache, sie erreichen die Gefühle ihrer Anhänger. Hauptsache, sie treffen die Stimmung im Land. Donald Trump appelliert an die Wut im Bauch und nicht an die Kühle im Kopf.

Aus dieser Analyse folgt nicht, dass solche Politik nachahmenswert ist. Und sie bedeutet genauso wenig, dass Politiker auf Wachstum pfeifen und sich einem Wohlfühlsozialismus hingeben sollten. Sie zeigt nur, dass Perspektivwechsel helfen. Dass Wachstum nicht alternativlos – und im Alleingang keine Rettung für wankende Demokratien und den Liberalismus ist.

Wie Politik auch anders funktionieren kann, beweist gerade die Interrail-Initiative der EU. Sie spendiert 15.000 Bahntickets für 18-Jährige. Das kostet nur Geld und bringt unter wirtschaftlichen Aspekten wenig. Dafür erzeugt es ein europäisches Gefühl. Noch ist das Projekt zu klein gestrickt und bevorteilt vor allem Jugendliche, die sich auf so einer Reise auch die Unterkünfte leisten können. Aber es ist ein Ansatz. Ganz ähnlich könnte auch über Umweltpolitik, Verkehr oder Einwanderung nachgedacht werden.

Die Zukunft des westlichen Modells wird davon abhängen, ob solche Sichtweisen Einzug in den Diskurs nehmen oder weiterhin verdrängt werden vom eindimensionalen Wachstumsmodell. Wer dem Geraune über leicht nach unten korrigierte Wachstumsprognosen in den vergangenen Wochen gelauscht hat, ahnt böses. Die Populisten und Autokraten dagegen freuen sich schon.

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