Eigentlich hätte es keinen Weckruf gebraucht. Die aktuellen Krisen – allen voran der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, die Coronapandemie und der immer stärker zu spürende Klimawandel – unterstreichen die Bedeutung von Sicherheit, Resilienz und Nachhaltigkeit als gesamtgesellschaftliche Ziele. Deutschland und die EU müssen diese Ziele gleichrangig erreichen, ohne starke Einbußen der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit hinzunehmen. Nur dann werden wir unsere strategische Souveränität wahren können: die Fähigkeit, unser freiheitliches Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell zu erhalten und unsere Werte international mit Gewicht einzubringen.
Seit Jahren hat sich abgezeichnet, dass die 2020er-Jahre ein Jahrzehnt der Umbrüche werden, in dem sich gewaltige geopolitische, ökologische und demografische Herausforderungen auftürmen. Der Konflikt zwischen China und den USA droht Europa zu zerdrücken. Dagegen hilft nur wirtschaftliche Stärke. Die Weltgemeinschaft als Ganze muss extreme Armut bekämpfen und dem globalen Süden wirtschaftliche Entwicklung ermöglichen, ohne dabei die Tragfähigkeit des Planeten zu überreizen; vor allem muss sie den Klimawandel aufhalten.
Genau in diesem herausfordernden Jahrzehnt erreichen hierzulande die geburtenstarken Jahrgänge der Nachkriegsgeneration das Rentenalter. Dies wird das wirtschaftliche Wachstum sowie die Stabilität der sozialen Sicherungssysteme erheblich belasten. All dies hätte schon seit Jahren nahegelegt, die leistungsfähigste Innovationsmaschine aller Zeiten weit stärker in Gang zu setzen: die dezentral verfasste, freiheitlich ausgerichtete Marktwirtschaft.
Doch damit tut gerade Deutschland sich erkennbar schwer. Dies ließ sich bislang verkraften, da hiesige Unternehmen über Jahrzehnte hinweg neue Märkte mit großem Erfolg erschließen konnten. Zugleich haben sie mit dem Ziel weiterer Effizienzsteigerungen ihre Wertschöpfungs- und Lieferketten immer weiter aufgespalten. Damit wuchs allerdings das Risiko, dass bereits kleine Störungen große Schäden auslösen können.
Zum Autor
Christoph M. Schmidt ist Präsident des RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung sowie Vizepräsident der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (Acatech). In einem Acatech-Impulspapier hat er sich gemeinsam mit Acatech-Präsident Jan Wörner mit den Herausforderungen der Zeitenwende beschäftigt.
Jetzt haben die aktuellen Krisen die Verletzlichkeit dieses Wirtschaftsmodells schonungslos offengelegt. Unternehmen stehen nun vor der Aufgabe, ihre Resilienz zu stärken: Sie sollten in der Lage sein, einen negativen Schock wie den Ausfall einer Lieferquelle weitgehend abzufangen, indem sie auf Diversifikation setzen, Reserven vorhalten und Redundanzen zulassen. Darüber hinaus sollten sie agil genug sein, um bei dennoch auftretenden Störungen ihre Prozesse rasch umzustellen und so die Schäden zu begrenzen. Schließlich sollten sie in der Lage sein, aus diesen Schocks zu lernen und ihre Geschäftsmodelle entsprechend anzupassen.
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Wenngleich das Streben nach stärkerer Resilienz kurzfristige Renditeaussichten der Unternehmen schmälern wird, dürften ihre Stakeholder dies honorieren. Denn Krisenfestigkeit wird künftig ein wichtiges Bewertungsmerkmal sein. Allerdings werden Resilienzstrategien in der Wirtschaft allein nicht ausreichen. Hier ist in dreifacher Hinsicht der Staat gefordert.
Erstens sollte der Staat dort, wo das gesellschaftliche Interesse an resilienten Strukturen über das einzelwirtschaftliche Kalkül hinausgeht, eine gestaltende Rolle einnehmen. Wir sehen die Politik insbesondere in der Pflicht, kritische Abhängigkeiten zu identifizieren. In diesen Bereichen sollte sie darauf hinwirken, dass sich anfällige Wertschöpfungs-, Liefer- und Innovationsketten zu resilienten mehrdimensionalen Netzen weiterentwickeln: Ketten reißen bei Ausfall eines Gliedes – in einem Netzwerk gibt es Alternativen. All dies kann durch geeignete Plattformen von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, ordnungsrechtliche Vorgaben und Anreize gefördert werden. Zu den Ansatzpunkten gehören: Einführen einer Resilienzberichterstattung, Prüfen von Versicherungsnotwendigkeiten sowie der Aufbau unabhängiger Monitoring- und Regulierungsinstitutionen für risikobehaftetes Handeln.
Zweitens sollte sich der Staat aber hinreichend zurücknehmen, um marktwirtschaftliche Effizienz so wenig wie möglich zu beeinträchtigen. Vor allem gilt es, den Unternehmen kein Übermaß an Absicherung aufzuerlegen. Und dort, wo Unternehmen in Verantwortung zur eigenen Absicherung bleiben, sollte der Staat glaubwürdig verdeutlichen: Im Schadensfall wird er nicht einknicken und dann doch Kosten übernehmen. Um diese kniffligen Abwägungen zwischen Resilienz und Effizienz hinzubekommen, sind die Anforderungen an die fachliche und strategische Kompetenz des Staates sehr hoch: Er sollte eigene Kompetenzen aufbauen und fachlich fundierten Rat suchen.
Drittens gilt es, mehr Vertrauen in Marktprozesse zu entfalten, um die Innovations- und Wachstumskräfte unserer Volkswirtschaft zu stärken. Nur dann wird es möglich sein, den Dreiklang der drei Ziele Sicherheit, Resilienz und Nachhaltigkeit zu erreichen, ohne Wohlstand und – damit eng verbunden – die soziale Balance infrage zu stellen. Nur dann wird die vielfach zitierte Zeitenwende ein Erfolg.
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