Die Welt nach Corona „Es droht ein Jahrzehnt der Verzweiflung“

Depression voraus: Der amerikanische Ökonom Nouriel Roubini prognostiziert tiefgreifende Veränderungen der Weltwirtschaft. Quelle: imago images

Der amerikanische Ökonom Nouriel Roubini sagt in einem exklusiven Gastbeitrag für die WirtschaftsWoche tiefgreifende Veränderungen der Weltwirtschaft voraus – und warnt vor einer großen Depression in diesem Jahrzehnt.

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Nach der Finanzkrise haben politische Fehler die Ungleichgewichte und Risiken in der Weltwirtschaft verschärft. Statt Strukturprobleme in Angriff zu nehmen, verschoben die Regierungen die Probleme überwiegend in die Zukunft und schufen so erhebliche Abwärtsrisiken, die eine weitere Krise geradezu unvermeidlich machten. Nun ist diese Krise da, und ich sage voraus: Selbst wenn der aktuellen Rezession eine U-förmige Erholung im weiteren Jahresverlauf folgt, sind wir nicht aus dem Schneider. Vielmehr dürfte eine L-förmige Depression noch in diesem Jahrzehnt folgen. Dies liegt in zehn verhängnisvollen Trends begründet.

Trend eins sind die steigenden Schulden und das damit verbundene Risiko von Zahlungsausfällen. Die politische Antwort auf die COVID-19-Krise liegt in einer massiven Erhöhung der Haushaltsdefizite in der Größenordnung von zehn Prozent vom Bruttoinlandsprodukt (BIP) und mehr – und das in einer Zeit, in der die Staatsverschuldung in vielen Ländern bereits hoch, wenn nicht gar untragbar ist.

Schlimmer noch: Die Einkommensverluste vieler Haushalte und Unternehmen bedeuten, dass auch das Schuldenniveau im privaten Sektor untragbar wird, was potenziell zu massenweisen Zahlungsausfällen und Konkursen führt. Zusammen mit der steil steigenden Staatsverschuldung hemmt dies die wirtschaftliche Erholung noch stärker als nach der großen Rezession vor einem Jahrzehnt.

Trend zwei ist die Demografie. Sie stellt eine wahre Zeitbombe in den hochentwickelten Volkswirtschaften dar. Die COVID-19-Krise zeigt, dass staatlicherseits viel mehr Geld in die Gesundheitssysteme fließen muss und dass eine universelle Krankenversicherung und andere entsprechende öffentliche Güter Notwendigkeiten und kein Luxus sind. Doch weil die meisten entwickelten Länder alternde Gesellschaften aufweisen, wird die künftige Finanzierung dieser Ausgaben die verdeckten Schulden der heutigen umlagefinanzierten Gesundheits- und Sozialversicherungssysteme weiter erhöhen.

von Malte Fischer, Martin Fritz, Julian Heißler, Jörn Petring

Trend drei liegt in der zunehmenden Deflationsgefahr. Die derzeitige Krise verursacht neben einer tiefen Rezession eine massive Flaute auf den Warenmärkten (wegen ungenutzter Maschinen und Kapazitäten) und Arbeitsmärkten. Sie befeuert einen Preiseinbruch bei Rohstoffen wie Öl und Industriemetallen. Dies macht eine Schuldendeflation wahrscheinlich, was das Insolvenzrisiko erhöht.

Kommen wir zu Trend Nummer vier: Die Notenbanken werden bei ihren Versuchen, die Deflation zu bekämpfen und die Gefahr steil steigender Zinsen abzuwenden (die sich aus dem massiven Schuldenaufbau ergibt), eine noch unkonventionellere und weitreichendere Geldpolitik verfolgen. Im Laufe der Zeit werden die fortdauernden negativen Angebotsschocks durch die beschleunigte Entglobalisierung und den wachsenden Protektionismus eine Stagflation praktisch unvermeidlich machen.

Das fünfte Problem liegt in der digitalen Destabilisierung der Wirtschaft. Da Millionen von Menschen ihre Arbeitsplätze verlieren oder weniger verdienen dürften, werden Einkommens- und Vermögensunterschiede im 21. Jahrhundert weiter zunehmen. Um sich gegen künftige Erschütterungen der Lieferketten abzusichern, werden viele Unternehmen in den hochentwickelten Ländern die Produktion aus preiswerteren Regionen in ihre kostenintensiveren Heimatmärkte zurückverlagern. Doch wird dieser Trend nicht den heimischen Arbeitnehmern helfen, sondern das Tempo der Automatisierung beschleunigen, was die Löhne unter Druck setzt und die Flammen des Populismus, Nationalismus und der Fremdenfeindlichkeit weiter anfachen wird.

Dies verweist auf den sechsten wichtigen Faktor: die Entglobalisierung. Die Pandemie beschleunigt Trends in Richtung Fragmentierung, die bereits vorher im Gange waren. Die USA und China werden sich schneller entkoppeln, und die meisten Länder werden darauf mit einer noch protektionistischeren Politik reagieren, um heimische Unternehmen und Arbeitnehmer vor globalen Verwerfungen zu schützen. Die postpandemische Welt wird durch stärkere Beschränkungen der Freizügigkeit von Waren, Dienstleistungen, Kapital, Arbeitskräften, Technologien, Daten und Informationen gekennzeichnet sein. In der Pharma- und Lebensmittelbranche sowie im Sektor für medizinisches Gerät, wo die Regierungen in Reaktion auf die Krise derzeit Exportbeschränkungen und andere protektionistische Maßnahmen verhängen, hat dies bereits begonnen.

Sturm der Verzweiflung

Eine Abkehr von der Demokratie wird diesen Trend verstärken. Populistische Führer profitieren häufig von wirtschaftlicher Schwäche, Massenarbeitslosigkeit und zunehmender Ungleichheit. Viele Arbeiter und weite Bereiche der Mittelschicht werden anfälliger werden für populistische Rhetorik, insbesondere für Vorschläge zur Beschränkung von Einwanderung und Handel.

Dies verweist auf einen achten Faktor: den geostrategischen Konflikt zwischen den USA und China. Da die Trump-Regierung ihr Möglichstes tut, um China die Schuld für die Pandemie zuzuschieben, dürfte das Regime des chinesischen Präsidenten Xi Jinping seine Behauptung, dass die USA einen friedlichen Aufstieg Chinas in konspirativer Weise zu hintertreiben suche, noch verstärken. Die chinesisch-amerikanische Entkoppelung von Handel, Technologie, Investitionen, Daten und Finanzarrangements wird sich intensivieren.

Noch schlimmer ist, dass dieser diplomatische Bruch die Bühne für einen neuen Kalten Krieg zwischen den USA und ihren Rivalen – nicht nur China, sondern auch Russland, dem Iran und Nordkorea – bereitet. Angesichts der nahenden US-Präsidentschaftswahlen spricht alles für eine Zunahme der heimlichen Cyber-Kriegsführung, die potenziell sogar zu konventionellen militärischen Konflikten führen könnte. Und weil die Technologie die zentrale Waffe im Kampf um die Beherrschung von Zukunftsbranchen und zur Bekämpfung von Pandemien ist, wird der private Technologiesektor der USA zunehmend mit dem militärisch-industriellen Komplex verschmelzen.

Ein letztes Risiko, das man nicht ignorieren kann, sind umweltbedingte Belastungen, die – wie die COVID-19-Krise gezeigt hat – deutlich mehr wirtschaftlichen Schaden anrichten können als eine Finanzkrise. Wiederholte Epidemien (HIV seit den 1980er Jahren, SARS 2003, H1N1 2009, MERS 2011, Ebola 2014-16) sind – wie der Klimawandel – im Wesentlichen menschgemachte Katastrophen, die aus schlechten Gesundheits- und Hygienestandards, dem Missbrauch der natürlichen Systeme und der wachsenden Vernetzung einer globalisierten Welt herrühren.

Diese zehn Risiken, die sich bereits vor dem Ausbruch von COVID-19 abzeichneten, könnten nun einen Sturm entfachen, der die gesamte Weltwirtschaft in ein Jahrzehnt der Verzweiflung treibt. Bis zu den 2030er Jahren könnte es zwar dank der technologischen Entwicklung und einer kompetenteren politischen Führung gelingen, viele dieser Probleme zu verringern, zu beheben oder zu minimieren – was zu einer stabileren und von verstärkter Zusammenarbeit geprägten internationalen Ordnung führen könnte. Doch setzt jedes Happy End voraus, dass wir einen Weg finden, die kommende Depression zu überstehen.

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Nach dem Absturz des Jahres 2008 gelang es mit einer energischen Kraftanstrengung, die Weltwirtschaft vor dem Abgrund zu retten. Infolge der Coronaviruskrise könnten wir weniger Glück haben. Ökonom Nouriel Roubini bezeichnet die Folgen der Corona-Pandemie als „die größte aller Weltwirtschaftskrisen“.

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