Herr Professor Fratzscher, was ist schlimm an Deflation?
Die Erwartung von fallenden Preisen bedeutet, dass Unternehmen und private Haushalte ihre Investitionen und Ausgaben reduzieren. Das führt zu höherer Arbeitslosigkeit und zu weniger Einkommen und Wachstum. Diese Dynamik kann die Deflation noch weiter verstärken, so dass die Volkswirtschaft in eine negative Spirale von Rezession und Deflation geraten kann, aus der es schwierig ist zu entkommen. Denn auch die Zentralbank kann in einer solchen Situation mit ihrer konventionellen Geldpolitik wenig ausrichten. Es ist daher wichtig, solche Risiken einer Deflation frühzeitig zu erkennen und vorzubeugen.
Wie erklären Sie jungen Menschen, dass eine Schuldenkrise ausgerechnet mit noch mehr Schulden gelöst werden kann?
Eine Schuldenkrise erfordert eine Konsolidierung durch weniger Ausgaben und eine lange Periode mit Überschüssen im öffentlichen Haushalt. Aber sie erfordert auch Wachstum und Beschäftigung. Denn in einer schrumpfenden Volkswirtschaft wird kein Staat seine Schulden nachhaltig abbauen können. Preisstabilität zu gewährleisten und eine Deflation zu verhindern , sind zentrale Voraussetzungen, um eine Konsolidierung und eine Rückkehr zu Wachstum zu ermöglichen.
Sie fordern von der EZB zur Verhinderung einer Deflation ein Anleihekaufprogramm im Volumen von 60 Milliarden Euro pro Monat. Warum 60 und nicht gleich 600 Milliarden Euro?
Ist die Summe eine Schätzung oder wurde sie berechnet auf Basis eine Makro-Modells?
Die Summe über einen Horizont von zwei Jahren entspricht etwa der Liquiditätslücke, die seit 2008 in der Eurozone durch ein negatives oder schwaches Wachstum der Geldmenge entstanden ist. Sie hat eine ähnliche Größe wie das Ankaufprogramm der US-Notenbank, bei einer ähnlichen Marktgröße. Kurzum, das Programm muss groß genug sein, um die Marktverzerrungen bereinigen zu können, darf aber nicht so groß sein, dass es zu einer Verstärkung der finanziellen Fragmentierung führt.
Führen QE und Nullzinspolitik zu Verzerrungen an den Kreditmärkten, zur Fehlallokation von Kapital und zu Spekulationsblasen?
Die wichtigste Aufgabe der Geldpolitik, und auch des QE-Programms, ist es, Preisstabilität zu gewährleisten, indem es existierende Verzerrungen und vor allem die große finanzielle Fragmentierung, die wir noch immer in der Eurozone haben, reduziert. Vor allem in den Krisenländern kommen kleine und mittelständische Unternehmen zu schwer an Kredite, um Investitionen tätigen zu können und Beschäftigung zu schaffen. Es ist das Mandat der EZB, ihren Beitrag zu leisten, um diese Probleme zu beheben. Aber wir dürfen nicht ignorieren, dass ein QE-Ankaufprogramm auch große Risiken birgt, denn es kann zu einer Blasenbildung in Finanzmärkten und anderen Verzerrungen führen. Dies darf nicht ignoriert und muss ernst genommen werden. Deshalb müssen die Risiken aller Optionen gründlich abgewogen werden. Und ein QE-Programm ist eine dieser Optionen, die wir in Betracht ziehen müssen.
Quantitative Easing kann auch in der EU funktionieren
In den USA hat QE den Anleihemarkt illiquider gemacht. Drohte das auch den Anleihemärkten der Eurozone?
Die USA hatten drei verschiedene QE-Programme seit 2008. Die wissenschaftliche Forschung zeigt, dass das erste Programm sehr erfolgreich war und sowohl die Liquidität verbessert, als auch eine Marktpanik verhindert hat. Auch das dritte und gegenwärtige QE-Programm der US-Notenbank war effektiv, was beispielsweise den Markt der Immobilienanleihen betrifft. Vor allem in diesem Marktsegment hat das Programm die Liquidität verbessert. Im Ganzen haben die drei QE-Programme einen ganz wichtigen Beitrag zur finanziellen Stabilität, Preisstabilität und wirtschaftlichen Erholung der USA – die übrigens weit fortgeschrittener ist als selbst die in Deutschland – beigetragen. Viele andere Länder haben auch QE-Programme umgesetzt. Es gibt also keinen guten Grund, wieso wir ein QE-Programm in der Eurozone nicht in Betracht ziehen sollten, und wieso es nicht funktionieren sollte.
Vergrößern sich durch QE die Vermögensunterschiede innerhalb der Gesellschaft?
Jede geldpolitische Maßnahme, auch eine Zinsänderung, hat immer und überall Verteilungseffekte. Wenn es dem QE-Programm gelingt, die Kreditvergabe an Unternehmen und Haushalte zu verbessern, dann werden in erster Linie solche Menschen davon profitieren, die wieder Arbeit finden und deren Einkommen sich verbessern. Wenn das QE-Programm es schafft, die Preisstabilität zu gewährleisten, dann wird in erster Linie den Menschen mit wenig Einkommen geholfen, da diese besonders unter Preisschwankungen leiden und sich dagegen weniger gut schützen können.
2012 hat das DIW die Einführung von Zwangsanleihen und eine einmalige Vermögensabgabe auf Privatvermögen vorgeschlagen. Rund 230 Milliarden Euro kämen in Deutschland so zusammen, wenn der Staat zehn Prozent des Wertes, der einem individuellen Nettovermögen von 250.000 Euro übersteigt, abzapfte. Ist dieser DIW-Vorschlag noch aktuell?
Das DIW Berlin hat 2012 eine Vermögensabgabe für Krisenstaaten wie Griechenland vorgeschlagen, nicht für Deutschland. Da die zur Berechnung notwendigen Daten aber für die Krisenstaaten nicht vorlagen, haben unsere Wissenschaftler die deutschen Daten als Grundlage einer Beispielrechnung genommen, um die möglichen Effekte zu verdeutlichen. Eine Vermögensabgabe für Deutschland halten wir für falsch, weil Deutschland sich nicht in einer Notsituation befindet. Eine Vermögensabgabe für Krisenstaaten wie Griechenland wäre hingegen nach wie vor sinnvoll. Denn es sollten sich alle, auch die reichen und superreichen Bürger der Krisenstaaten an der Konsolidierung des Staatshaushalts beteiligen. Und wir sehen zum Beispiel in Griechenland, dass die reichsten Griechen nicht nur hohe Vermögen haben, sondern auch sehr niedrige Steuern im internationalen Vergleich zahlen.
Was halten Sie vom Vorschlag des IWF, eine progressive Einkommensteuer, die in den Bereich von Sätzen zwischen 50 und 60 Prozent reicht, einzuführen?
Der IWF hat diesen Vorschlag pauschal so nicht gemacht. Und für Deutschland würde ich einen solchen Vorschlag auch für falsch halten. Auch weil Deutschland im internationalen Vergleich bereits hohe Steuern und Abgaben hat. Wir sollten uns viel mehr darauf konzentrieren, wie wir die staatlichen Leistungen und Ausgaben zielgenauer gestalten.
"Die Schuldenbremse ist richtig"
Vom welchen Schuldenniveau an verpufft die positive Wirkung neuer Schulden auf die Konjunktur? Ist dieser Punkt in der Euro-Zone nicht bereits überschritten?
Es gibt kein fixes Schuldenniveau, für das dies zutrifft. Denn Schulden sind dann schädlich, wenn sie Unternehmen und private Haushalte zu stark belasten und zu einem Vertrauensverlust und Verzerrungen in der Volkswirtschaft führen. In Italien, mit einer Schuldenquote von 130 Prozent und noch immer hohen Defiziten, mag dies der Fall sein. In Deutschland sehe ich dagegen eine solche Gefahr nicht, denn die öffentlichen Haushalte haben Überschüsse und wir bauen Staatsschulden aktiv ab. Die Schuldenbremse ist daher richtig und wichtig.
Ist der Neo-Keynesianismus des DIW noch zeitgemäß?
Das DIW Berlin ist weder "neo-keynesianisch" noch "neoklassisch" ausgerichtet. Wir sehen unsere Aufgabe darin, durch empirisch geleitete und theoretisch fundierte Forschung die wirtschaftspolitischen Diskussionen zu informieren. Das zeigen unsere Studien sehr deutlich. Und kaum ein Institut hat eine so intensive und große empirische Datengrundlage wie das DIW Berlin mit seinem Sozioökonomischen Panel (SOEP), das nun mittlerweile seit drei Jahrzehnten die Grundlage für große Teile unserer Forschung als auch Forschung anderer Wissenschaftler stellt.