Ich hätte auf Alan Greenspan hören sollen – zumindest im Hinblick auf Währungsprognosen. Der frühere Präsident der US-Notenbank Federal Reserve sagte mir einmal, derartige Vorhersagen seien reines Glücksspiel – und die Chancen, richtig zu liegen, seien geringer als bei einer Wette auf einen Münzwurf. Vor zwei Jahren ließ ich den Rat des Maestros außer Acht und wagte die Prognose, dass der US-Dollar um 35 Prozent abstürzen werde.
Nach einem Rückgang von neun Prozent in der zweiten Hälfte des Jahres 2020, der meine Prognose zu bestätigen schien, hat sich der „Broad Dollar Index“ - der von der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich berechnete reale effektive Wechselkurs – in die andere Richtung entwickelt und ist von Januar 2021 bis Mai 2022 um 12,3 Prozent in die Höhe geschnellt. Damit liegt der Dollar nun 2,3 Prozent über dem Stand vom Mai 2020, als ich meine offenkundig törichte Einschätzung abgab. Wie konnte ich mich so irren?
Mein Gedankengang basierte auf Amerikas Leistungsbilanzdefizit und auf der Politik der Federal Reserve. Ich argumentierte, dass man mit dem Zahlungsbilanzdefizit auf große Schwierigkeiten zusteuerte – und dass eine passive Fed wenig tun würde, um dem Problem Einhalt zu gebieten. Ein Großteil der Leistungsbilanzanpassung würde daher nicht über steigende Zinssätze erreicht, sondern im Wege einer sich abschwächenden Währung. Ich glaubte auch nicht an die „Alternativlosigkeit“ des Dollar als Greenback der Welt und versammelte Argumente für die Aufwertung von Euro und Renminbi.
Heute sehen wir: Die Fed hat den Dollar gerettet – mit tatkräftiger Unterstützung des russischen Präsidenten Wladimir Putin.
Das Leistungsbilanzdefizit der USA – Kern meiner Argumentation gegen den Dollar – hat sich in den vergangenen zwei Jahren tatsächlich dramatisch verschlechtert. Das umfassendste Maß für Amerikas Außenbilanz stieg von minus zwei Prozent des BIP im ersten Quartal 2020 auf minus 4,8 Prozent im ersten Quartal 2022 – und die Daten für Anfang 2022 weisen die zweitstärkste vierteljährliche Verschlechterung seit 1960 auf. Amerikas Leistungsbilanzdefizit ist so hoch wie seit Mitte 2008 nicht mehr, als die globale Finanzkrise ihren Höhepunkt erreichte.
Zum Autor
Stephen S. Roach ist Ökonom und ehemaliger Vorsitzender von Morgan Stanley Asia, Mitglied des Kollegiums an der Universität Yale und Verfasser des in Kürze erscheinenden Buchs „Accidental Conflict: America, China, and the Clash of False Narratives“, Yale University Press, November 2022.
Meine Prognose eines Dollar-Absturzes basierte vor allem auf der Möglichkeit einer zunehmend instabilen Leistungsbilanzdynamik nach der Pandemie: Übermäßige Bundeshaushaltsdefizite würden zu einer drastischen Verringerung der ohnehin schon spärlich vorhandenen inländischen Ersparnisse führen. Die Theorie besagt, dass es für das Wachstum von Volkswirtschaften mit geringer Sparquote gilt, Ersparnisse zu importieren und große Leistungsbilanzdefizite auszuweisen, um ausländisches Kapital anzuziehen. Und angesichts explodierender Haushaltsdefizite erwies sich die Theorie auch in der Praxis: Die amerikanische Nettosparquote sank in den mittleren beiden Quartalen des Jahres 2020 auf Null.
Überraschenderweise hat sich die Sparleistung seither wieder erholt, wobei die nationale Nettosparquote im Jahr 2021 durchschnittlich 3,25 Prozent betrug und Anfang 2022 auf 4,2 Prozent stieg. Im Zeitraum nach der Pandemie, beginnend mit dem zweiten Quartal 2020, betrug die Nettosparquote jedoch durchschnittlich nur 2,6 Prozent des Nationaleinkommens – ein dramatischer Abfall gegenüber dem 45-jährigen Durchschnitt von sieben Prozent zwischen 1960 und 2005.
Die Geschichte zeigt, dass drastisch schlechter werdende Leistungsbilanzen für Länder mit mangelnden Ersparnissen nicht tragbar sind. Ausländische Gläubiger verlangen für die Ausleihe ihrer Überschüsse Gegenleistungen: höhere Renditen (Zinssätze), günstigere Finanzierungen (Wechselkurse) oder beides. Bleibt ein Weg verbaut, trägt der andere Kanal die Hauptlast der Leistungsbilanzanpassung. Und hier hat die Fed den Dollar am Ende gerettet.
Im Jahr 2020 und Anfang 2021 sah das noch ganz anders aus. In dieser Zeit hielt die Fed unbeirrt an ihrer übermäßig akkommodierenden Politik fest und zwar trotz eines sich abzeichnenden Inflationsschocks, den sie zunächst fälschlicherweise als „vorübergehend“ bezeichnete. Ich betrachtete diese Uneinsichtigkeit als Grund für meine Annahme, wonach die Zinssätze unangenehm niedrig bleiben würden.
Schneller schlau: Inflation
Wenn die Preise für Dienstleistungen und Waren allgemein steigen – und nicht nur einzelne Produktpreise – so bezeichnet man dies als Inflation. Es bedeutet, dass Verbraucher sich heute für zehn Euro nur noch weniger kaufen können als gestern noch. Kurz gesagt: Der Wert des Geldes sinkt mit der Zeit.
Die Inflationsrate, auch Teuerungsrate genannt, gibt Auskunft darüber, wie hoch oder niedrig die Inflation derzeit ist.
Um die Inflationsrate zu bestimmen, werden sämtliche Waren und Dienstleistungen herangezogen, die von privaten Haushalten konsumiert bzw. genutzt werden. Die Europäische Zentralbank (EZB) beschreibt das wie folgt: „Zur Berechnung der Inflation wird ein fiktiver Warenkorb zusammengestellt. Dieser Warenkorb enthält alle Waren und Dienstleistungen, die private Haushalte während eines Jahres konsumieren bzw. in Anspruch nehmen. Jedes Produkt in diesem Warenkorb hat einen Preis. Dieser kann sich mit der Zeit ändern. Die jährliche Inflationsrate ist der Preis des gesamten Warenkorbs in einem bestimmten Monat im Vergleich zum Preis des Warenkorbs im selben Monat des Vorjahrs.“
Eine Inflationsrate von unter zwei Prozent gilt vielen Experten als „schlecht“, da sie ein Zeichen für schwaches Wirtschaftswachstum sein kann. Auch für Sparer sind diese niedrigen Zinsen ein Problem. Die EZB strebt mittelfristig eine Inflation von zwei Prozent an.
Deutlich gestiegene Preise belasten Verbraucherinnen und Verbraucher. Sie können sich für ihr Geld weniger leisten. Der Privatkonsum ist jedoch eine wichtige Stütze der Konjunktur. Sinken die Konsumausgaben, schwächelt auch die Konjunkturentwicklung.
Von Disinflation spricht man, wenn die Geschwindigkeit der Preissteigerungen abnimmt – gemeint ist also eine Verminderung der Inflation, nicht aber ein sinkendes Preis-Niveau.
Infolgedessen würde sich die Anpassung der US-Leistungsbilanz zunehmend auf die drastische Abwertung eines überbewerteten Dollars konzentrieren. Meine Erwartung einer Dollarkorrektur von 35 Prozent entsprach dem 30-Prozent-Durchschnitt dreier früherer zyklischer Rückgänge in den Siebziger-, Achtziger- und Nullerjahren.
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Als die Fed Ende 2021 verspätet umschwenkte, hätte ich das hinsichtlich meiner Dollar-Prognose auch tun sollen. Vorausschauende Finanzmärkte haben richtig erkannt, dass etwas geschehen musste und bewegten sich in Erwartung der Fed-Kehrtwende schon lange vorher. Etwa die Hälfte der Aufwertung des Dollars um 12,3 Prozent seit Januar 2021 fand vor dem Schwenk der Fed im Dezember 2021 statt.
Putins Säbelrasseln und die anschließende militärische Aggression in der Ukraine haben dem Dollar einen erheblichen Aufschwung beschert: Der Greenback wurde als „sicherer Hafen“ angesteuert. Der Euro und sogar der Renminbi fielen – und der japanische Yen brach ein, da die Bank of Japan nur allzu bereit war, eine Inflation als Gegenmittel gegen ihr drittes „verlorenes Jahrzehnt“ zuzulassen.
Aus dieser Episode lassen sich viele Lehren ziehen. Erstens: Man stelle sich nicht gegen die Fed. Die US-Notenbank hat das Richtige getan. Sie hat noch viel vor sich, scheint aber mittlerweile bereit, das Nötige in Angriff zu nehmen. Zweitens: Finanzmärkte scheren sich nicht um Theorien. Die Straffung der US-Geldpolitik ist kein Zugeständnis zur Leistungsbilanzfinanzierung einer US-Wirtschaft mit mangelnden Ersparnissen, sondern der verzweifelte Versuch, die Renditekurve einzufangen.
Drittens: Das exorbitante Privileg des Dollar als weltweite Reservewährung tritt in Kriegszeiten deutlicher denn je hervor. Da sich die Welt dank Putin in Turbulenzen befindet, ist „Alternativlosigkeit“ verführerischer denn je.
Allerdings: Ich vermute, dass die Entscheidung der Fed und der Faktor Alternativlosigkeit bereits im Preis eines überbewerteten Dollars enthalten sind. Das kann meiner Ansicht nach von der düsteren Prognose für die US-Zahlungsbilanz nicht behauptet werden. Und ja, ich weiß – das habe ich schon vor zwei Jahren gesagt.
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