Essay Ökonomen verstehen nichts von Wirtschaft

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Der Methodenstreit

Börsenhändler an der New Yorker Börse Quelle: dpa

Der sogenannte Methodenstreit, den Menger und Gustav Schmoller 1883/84 ausfochten, hat sich vor dem Hintergrund einer Kontroverse über das richtige Menschenbild und die richtige Wirtschaftspolitik abgespielt. Menger erhob den Individualismus zum Ausgangspunkt seiner Disziplin und verteidigte ihn gegen Schmollers Verdikt, es gebe keine unveränderlichen Gesetze menschlichen Handelns. Schmoller zog daraus den Schluss, dass die Ökonomie vor allem ihre veränderliche Rolle im Kollektiv des Staates und der Gesellschaft in den Blick zu nehmen habe.

Natürlich ist die Kontroverse, auch wenn die meisten Ökonomen sie für aktuell halten, längst überholt: Schon Émile Durkheim hat 1893 die alles entscheidende Frage gestellt: „Wie geht es zu, dass das Individuum, obgleich es immer autonomer wird, immer mehr von der Gesellschaft abhängt?“ Nun, das ist in der Tat die Frage – und sie blamiert vor allem Menger: Erstens, weil Durkheim das Individuum nicht als Ichling, sondern im Hinblick auf Zweite und Dritte, genauer: auf ihre wechselseitige Abhängigkeit in einer arbeitsteiligen Welt hin entwirft. Zweitens, weil er damit zugleich die Formelhaftigkeit einer Ceteris-Paribus-Ökonomie (veränderte Parameter unter ansonsten gleichen Bedingungen) als wissenschaftstheoretischen Autismus demaskiert: „Der Chemiker darf wagen, von den physikalischen Eigenschaften eines chemischen Gegenstandes zu abstrahieren, aber, wenn er die atmosphärische Luft untersuchte und nach dem Grundsatze Menger’scher Isolierung sagte: ich ziehe dabei den Stickstoff in Betracht, weil er vorherrscht, so würde man ihn sofort aus dem Laboratorium werfen.“

Die Instrumente zur Euro-Rettung

Ausgerechnet Friedrich August von Hayek, ein Enkel der von Menger begründeten „Österreichischen Schule“, springt Schmoller 1956 bei. Für Hayek ist klar, dass die „wirklich fruchtbare Forschungstätigkeit eine sehr differenzierte Kombination von verschiedenen Arten von Wissen und Kenntnissen“ zur Voraussetzung hat – und dass die Ökonomie vor allem eine Lebenswissenschaft ist, die nicht nur mit Formeln operieren darf, sondern sich hermeneutischer (verstehender) Verfahren zu bedienen hat. Die Ökonomie, so Hayek, dürfe den Blick nicht nur nach innen richten und auf empirisch belastbare Systemimmanenz zielen: Sie muss sich auch selbst auslegen, kulturell einbetten, historisch verorten. Andernfalls sei sie keine Wissenschaft des Menschen, sondern eine Wissenschaft der Zahl, die ihre eigene Grundannahme – methodologischer Individualismus – desavouiert, indem sie Menschen als Totalquanten und aggregierte Datenbündel beschreibt. Hayek: „Niemand kann ein großer Ökonom sein, der nur Ökonom ist, und ich bin sogar versucht hinzuzufügen, dass der, der ausschließlich Ökonom ist, leicht zum Ärgernis, wenn nicht gar zu einer wirklichen Gefahr wird.“

Krise des Feuilletons

Freilich, zum Ärgernis, wenn nicht gar zu einer wirklichen Gefahr, sind im Verlauf der Krise auch die geworden, die sich als Angehörige der „kulturellen Fraktion“ über die Händel der Geld-Welt erhaben fühlen – und die das Geschäftstreiben vom Hochsitz ihrer verfeinerten Bildung aus mit soziologisch geschulter Distanz und widerwilliger Faszination zur Kenntnis nehmen. Es gehört offenbar immer noch zum guten Ton in den Geisteswissenschaften, die Vorzüge der Marktwirtschaft, die zivilisatorischen Errungenschaften des Fortschritts und das Bewegungsgesetz des Kapitalismus – Kredit, Innovation, Instabilität – möglichst schlecht gelaunt zur Kenntnis zu nehmen. Anders jedenfalls ist die Jubelbereitschaft, mit der das Feuilleton das parareligiöse (Tausch-)Paradigma der Ökonomen durch das (Schuld- und Vertrauens-)Paradigma der Anthropologie (David Graeber) ersetzt und zur „neuen“ Geschäftsgrundlage des Kapitalismus erklärt, nicht zu verstehen – zumal uns der Archäologe Bernhard Laum auf diese Geschäftsgrundlage schon 1924 aufmerksam gemacht hat. Tatsächlich liegt die Wahrheit, wie immer, in der Mitte – oder besser: mitten in der wachsenden Kluft des Unverständnisses, die zwischen Ökonomen und Kulturwissenschaftlern aufreißt, an den Universitäten, aber auch in den Ressorts der Zeitungen und Magazine.

Die Fronten stehen sich steiltheoretisch gegenüber. Liberale Ökonomen denunzieren den Schuldenstaat als Quelle aller Finanzübel, die derselbe Schuldenstaat mit der Rettung großer Banken zugleich aus der Welt schaffen soll. Und erlösungsbereite Geisteswissenschaftler begrüßen die Entheiligung der Märkte, die Unvernunft der Spekulation und die „Entdeckung“ eines referenzlosen Gespensterkapitals, das als Binärcode um den Globus vagabundiert (Joseph Vogl) – ganz so, als sei der Finanzmarkt nie der Altarraum gewesen, in dem einst auch seine Kritiker das Opfer ihrer Lebensversicherungen (und Vernunft) gebracht hätten. Was bei diesen rituellen Tänzen um Vorurteile auf der Strecke bleibt, ist vor allem zweierlei: das Verständnis für konstitutive Instabilität des Kapitalismus – und für die Komplementarität der Sphären „Staat“ und „Markt“.

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