Der sogenannte Methodenstreit, den Menger und Gustav Schmoller 1883/84 ausfochten, hat sich vor dem Hintergrund einer Kontroverse über das richtige Menschenbild und die richtige Wirtschaftspolitik abgespielt. Menger erhob den Individualismus zum Ausgangspunkt seiner Disziplin und verteidigte ihn gegen Schmollers Verdikt, es gebe keine unveränderlichen Gesetze menschlichen Handelns. Schmoller zog daraus den Schluss, dass die Ökonomie vor allem ihre veränderliche Rolle im Kollektiv des Staates und der Gesellschaft in den Blick zu nehmen habe.
Natürlich ist die Kontroverse, auch wenn die meisten Ökonomen sie für aktuell halten, längst überholt: Schon Émile Durkheim hat 1893 die alles entscheidende Frage gestellt: „Wie geht es zu, dass das Individuum, obgleich es immer autonomer wird, immer mehr von der Gesellschaft abhängt?“ Nun, das ist in der Tat die Frage – und sie blamiert vor allem Menger: Erstens, weil Durkheim das Individuum nicht als Ichling, sondern im Hinblick auf Zweite und Dritte, genauer: auf ihre wechselseitige Abhängigkeit in einer arbeitsteiligen Welt hin entwirft. Zweitens, weil er damit zugleich die Formelhaftigkeit einer Ceteris-Paribus-Ökonomie (veränderte Parameter unter ansonsten gleichen Bedingungen) als wissenschaftstheoretischen Autismus demaskiert: „Der Chemiker darf wagen, von den physikalischen Eigenschaften eines chemischen Gegenstandes zu abstrahieren, aber, wenn er die atmosphärische Luft untersuchte und nach dem Grundsatze Menger’scher Isolierung sagte: ich ziehe dabei den Stickstoff in Betracht, weil er vorherrscht, so würde man ihn sofort aus dem Laboratorium werfen.“
Die Instrumente zur Euro-Rettung
Pro: Mit einer gemeinsamen Einlagensicherung und mit einem EU-weiten Sicherheitsnetz für Europas Banken könnte zwei bedrohlichen Szenarien vorgebeugt werden: einem Bank-run, bei dem die Sparer panisch ihre Einlagen von der Bank abheben. Und der Gefahr, dass nationale Auffangfonds nicht ausreichen, um nationale Banken zu stützen.
Contra: Gesunde Banken, allen voran in Deutschland, müssten im Ernstfall für ihre maroden Konkurrenten in anderen Euroländern zahlen. Außerdem gibt es noch keine effiziente europäische Bankenaufsicht. Damit gelten für die Banken noch unterschiedliche Voraussetzungen - und es besteht keine Möglichkeit, die Geldhäuser zu kontrollieren und Abwicklungen und Restrukturierungen zu erzwingen.
Wahrscheinlichkeit: nur vorhanden, wenn es vorher eine effiziente europäische Bankenaufsicht gibt. Das soll die Europäische Zentralbank übernehmen. Wenn dazu eine überzeugende Einigung gelingt: 60 Prozent.
Pro: Mit direkter Bankenhilfe aus dem ESM oder von der EZB wären Krisenländer wie Spanien ihr größtes Problem los: dass nämlich Notkredite der Europartner die Schuldenlast das Staatshaushaltes und damit die Pleitegefahr deutlich erhöhen. Der Rettungsfonds könnte den Banken direkt Sicherheiten zur Verfügung stellen, mit denen diese das notwendige Geld zur Rekapitalisierung aufnehmen. Im besten Fall verdient der ESM daran, weil er das Geld billiger aufnimmt als verleiht.
Contra: Bei direkter Bankenhilfe hätten die Euroländern keine Möglichkeit, Gegenleistungen von den Regierungen zu erzwingen. Zudem wäre nicht garantiert, dass die Banken die Unterstützung zurückzahlen, wenn kein Staat dahinter steht. Unklar ist überdies, wie Auflagen für die Banken selbst durchgesetzt werden sollten.
Wahrscheinlichkeit: Siehe BANKEN-UNION: ohne eine effiziente europäische Bankenaufsicht gleich null. Nach Aufbau einer europäischen Aufsicht: 70 Prozent.
Pro: Dahinter verbirgt sich die Idee gemeinsamer Staatsanleihen, die von den Ländern der Eurozone ausgegeben würden. Ihr Reiz läge darin, dass alle Staaten zusammen für die Rückzahlung haften und sich so gegenseitig Rückendeckung geben. Dadurch könnten selbst von den Anlegern geschmähte Euro-Sorgenkinder wie Spanien, Italien und Griechenland wieder zu günstigeren Zinsen an frisches Geld kommen - und so ihre schwächelnde Konjunktur ankurbeln. Befürworter wie Frankreich hoffen, dass damit der Teufelskreis aus steigenden Staatsschulden und höheren Zinsen ein für alle Mal durchbrochen und ein abschreckendes Signal an Spekulanten ausgesendet wird.
Contra: Vergleichsweise solide haushaltende Staaten wie Deutschland, dessen Bundesanleihen bei Investoren als sicherer Hafen gelten und deshalb ein historisches Zinstief erreicht haben, müssten bei der Ausgabe gemeinsamer Euro-Bonds wieder höhere Renditen in Kauf nehmen - und somit Milliarden draufzahlen. Gegner monieren zudem fehlende Reformanreize für hoch verschuldete Staaten, weil großzügige Ausgabenpolitik die eigene Bonität nicht mehr direkt beeinträchtigen würden. Sie lehnen auch eine gesamtschuldnerische Haftung ab - denn beim Ausfall eines Schuldners müsste das Kollektiv, also Deutschland wie jedes andere Land, komplett für dessen Verbindlichkeiten haften.
Wahrscheinlichkeit: tendiert auf absehbare gegen Null Prozent, wegen des vehementen Widerstands der Bundesrepublik und anderer Nordländer.
Pro: Euro-Bills sollen die Kritiker der Euro-Bonds beschwichtigen, weil sie eine kürzere Laufzeit haben und in der Summe begrenzt wären. Mit ihrer Hilfe dürfte sich jeder Staat nur bis zu einem bestimmten Prozentsatz seiner Wirtschaftsleistung finanzieren. Wer die damit verbundenen Haushaltsregeln nicht einhält, würde im Folgejahr vom Handel mit den Papieren ausgeschlossen. Die Idee wurde in EU-Kreisen als Kompromiss lanciert, weil sich vor allem Berlin stoisch auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts beruft, das eine in Dauer und Höhe unbegrenzte Schuldenübernahme untersagt.
Contra: In Diplomatenkreisen werden die Euro-Bills als kleine Brüder der Euro-Bonds belächelt. Das erhoffte überwältigende Signal an Märkte und Spekulanten, dass Wetten gegen Euro-Staaten zum Scheitern verdammt sind, wären sie jedenfalls nicht mehr. Da Volumen und Laufzeit begrenzt sind, stellt sich zudem die Frage, ob sie die Nöte hoch verschuldeter Euro-Sorgenkinder unter steigendem Zinsdruck überhaupt effektiv zu lindern.
Wahrscheinlichkeit: 10 Prozent, weil Euro-Bills weder für die Befürworter noch für die Gegner gemeinschaftlicher Staatsanleihen die erhoffte Lösung wären.
Pro: Mit einem Schuldentilgungsfonds, wie ihn die fünf deutschen Wirtschaftsweisen vorgeschlagen haben, würden nur nationale Verbindlichkeiten jenseits von 60 Prozent gemeinschaftlich und zu niedrigen Zinsen bedient - also erst über der Marke, die der EU-Stabilitätspakt gerade noch zulässt. Bis zu dieser roten Linie müssten die Länder weiterhin alleine für ihre Schulden gerade stehen, andere Euro-Staaten also nicht für die gesamte Schuldensumme ihrer europäischen Partner haften. Der zu gründende Fonds würde sich selbst an den Finanzmärkten refinanzieren und dort über eine kollektive Haftung aller Mitgliedstaaten abgesichert.
Contra: Während neben der SPD und den Grünen zuletzt auch das Europäische Parlament und der Internationale Währungsfonds Sympathien für diese Lösung bekundet haben, hegt die Bundesregierung verfassungsrechtliche Zweifel. Koalitionspolitiker sehen in ihr den Einstieg in die Vergemeinschaftung von Schulden, wie sie die No-Bailout-Klausel der europäischen Verträge verbiete. Die Bundesbank empfindet schon die Bezeichnung "Schuldentilgungspakt" als missverständlich, weil damit keine harten Einsparauflagen und Überschüsse zur Rückzahlung der Staatsschulden einhergingen.
Wahrscheinlichkeit: 20 Prozent, da der Tilgungsfonds letztlich zwar ebenfalls die Übernahme fremder Schulden bedeutet, allerdings zu einem geringeren Umfang als bei Euro-Bonds oder Euro-Bills.
Pro: Mit der Ausgabe dieser Projektanleihen sollen in der EU bis Ende 2013 Privatinvestitionen von rund 4,5 Milliarden Euro mobilisiert werden. Dafür stünden in einer Pilotphase zwar nur 230 Millionen Euro aus dem EU-Budget zur Verfügung, Brüssel hofft jedoch auf einen 20-fachen Hebelfaktor: Mit der Europäischen Union im Rücken sollen Investoren kreditwürdiger erscheinen, dadurch an billigeres Geld kommen und so grenzüberschreitende Verkehrs- oder Energieprojekte finanzieren. Es bestünde also die Hoffnung, mit relativ geringem Risiko einen beachtlichen Effekt zu erzielen.
Contra: Skeptiker halten dem entgegen, dass sich für ökonomisch sinnvolle Projekte meist auch ohne staatliche Hilfe Privatinvestoren finden. Außerdem gebe es bislang lediglich eine Hand voll konkreter Vorhaben, die zudem nicht alle besonders ausgereift konzipiert seien.
Wahrscheinlichkeit: 95 Prozent, da eine informelle Einigung bereits Ende Mai erzielt wurde und die einzusetzenden Mittel in einem günstigen Verhältnis zum erhofften Nutzen stünden.
Ausgerechnet Friedrich August von Hayek, ein Enkel der von Menger begründeten „Österreichischen Schule“, springt Schmoller 1956 bei. Für Hayek ist klar, dass die „wirklich fruchtbare Forschungstätigkeit eine sehr differenzierte Kombination von verschiedenen Arten von Wissen und Kenntnissen“ zur Voraussetzung hat – und dass die Ökonomie vor allem eine Lebenswissenschaft ist, die nicht nur mit Formeln operieren darf, sondern sich hermeneutischer (verstehender) Verfahren zu bedienen hat. Die Ökonomie, so Hayek, dürfe den Blick nicht nur nach innen richten und auf empirisch belastbare Systemimmanenz zielen: Sie muss sich auch selbst auslegen, kulturell einbetten, historisch verorten. Andernfalls sei sie keine Wissenschaft des Menschen, sondern eine Wissenschaft der Zahl, die ihre eigene Grundannahme – methodologischer Individualismus – desavouiert, indem sie Menschen als Totalquanten und aggregierte Datenbündel beschreibt. Hayek: „Niemand kann ein großer Ökonom sein, der nur Ökonom ist, und ich bin sogar versucht hinzuzufügen, dass der, der ausschließlich Ökonom ist, leicht zum Ärgernis, wenn nicht gar zu einer wirklichen Gefahr wird.“
Krise des Feuilletons
Freilich, zum Ärgernis, wenn nicht gar zu einer wirklichen Gefahr, sind im Verlauf der Krise auch die geworden, die sich als Angehörige der „kulturellen Fraktion“ über die Händel der Geld-Welt erhaben fühlen – und die das Geschäftstreiben vom Hochsitz ihrer verfeinerten Bildung aus mit soziologisch geschulter Distanz und widerwilliger Faszination zur Kenntnis nehmen. Es gehört offenbar immer noch zum guten Ton in den Geisteswissenschaften, die Vorzüge der Marktwirtschaft, die zivilisatorischen Errungenschaften des Fortschritts und das Bewegungsgesetz des Kapitalismus – Kredit, Innovation, Instabilität – möglichst schlecht gelaunt zur Kenntnis zu nehmen. Anders jedenfalls ist die Jubelbereitschaft, mit der das Feuilleton das parareligiöse (Tausch-)Paradigma der Ökonomen durch das (Schuld- und Vertrauens-)Paradigma der Anthropologie (David Graeber) ersetzt und zur „neuen“ Geschäftsgrundlage des Kapitalismus erklärt, nicht zu verstehen – zumal uns der Archäologe Bernhard Laum auf diese Geschäftsgrundlage schon 1924 aufmerksam gemacht hat. Tatsächlich liegt die Wahrheit, wie immer, in der Mitte – oder besser: mitten in der wachsenden Kluft des Unverständnisses, die zwischen Ökonomen und Kulturwissenschaftlern aufreißt, an den Universitäten, aber auch in den Ressorts der Zeitungen und Magazine.
Die Fronten stehen sich steiltheoretisch gegenüber. Liberale Ökonomen denunzieren den Schuldenstaat als Quelle aller Finanzübel, die derselbe Schuldenstaat mit der Rettung großer Banken zugleich aus der Welt schaffen soll. Und erlösungsbereite Geisteswissenschaftler begrüßen die Entheiligung der Märkte, die Unvernunft der Spekulation und die „Entdeckung“ eines referenzlosen Gespensterkapitals, das als Binärcode um den Globus vagabundiert (Joseph Vogl) – ganz so, als sei der Finanzmarkt nie der Altarraum gewesen, in dem einst auch seine Kritiker das Opfer ihrer Lebensversicherungen (und Vernunft) gebracht hätten. Was bei diesen rituellen Tänzen um Vorurteile auf der Strecke bleibt, ist vor allem zweierlei: das Verständnis für konstitutive Instabilität des Kapitalismus – und für die Komplementarität der Sphären „Staat“ und „Markt“.