Ethiksiegel für die Wissenschaft Garantiert drogenfreie Forschung

Ökonomen müssen immer häufiger nachweisen, dass ihre Studien auf moralisch einwandfreie Weise zustande kamen. Topjournals verlangen ein Ethiksiegel. Das stellt deutsche Ökonomen vor Probleme.

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Das Sozio-oekonomische Panel (SOEP) am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) zählt zu den weltweit renommiertesten Bevölkerungsumfragen. Umso erstaunter war DIW-Vorstandsmitglied Gert Wagner, als er vor einiger Zeit eine auf SOEP-Daten beruhende Arbeit bei einem internationalen Journal einreichte. Die Fachzeitschrift forderte einen Nachweis, dass die Arbeit ethisch einwandfrei zustande gekommen sei. Wer aber soll in Deutschland ein solches Zertifikat ausstellen? Wagner griff in die Trickkiste – und reichte ein Papier seines Datenschutzbeauftragten ein.

Ähnliche Probleme dürften künftig auch andere Ökonomen bekommen. Was in der Medizin und Psychologie seit jeher praktiziert wird, schwappt derzeit auf die Sozialwissenschaften über. Immer mehr Topjournals veröffentlichen Studien nur noch dann, wenn der Autor ein „ethical approval“ vorlegt – also ein Schreiben, in dem ein offizielles Gremium von Universitäten oder Forschungseinrichtungen bestätigt, dass die Arbeit ethischen Kriterien genügt. Auch viele internationale Geldgeber in der Forschungsförderung pochen mittlerweile auf ein solches Zertifikat.

„Gerade für experimentelle Wirtschaftsforscher in Deutschland ist das eine neue Publikationshürde“, warnt Regina Riphahn, Professorin für empirische Wirtschaftsforschung an der Universität Erlangen-Nürnberg und Vorsitzende des Rates für Sozial- und Wirtschaftsdaten (RatSWD). Zumal deutsche Ökonomen nun ein ganz praktisches Problem haben: Es gibt bei uns so gut wie keine Ethikkommissionen für die Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Erst in jüngster Zeit sind einige wenige entstanden, etwa am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB), das sich am Ethikkodex der London School of Economics orientiert.

Kein Wunder also, dass das Thema den Wissenschaftsbetrieb derzeit gehörig umtreibt. Auf der Präsidiumssitzung der Leibniz-Gemeinschaft, in der rund 90 Forschungseinrichtungen zusammengeschlossen sind, stand Ende März die Ethikfrage ganz oben auf der Tagesordnung. Im Juni will die von Gert Wagner geleitete AG Forschungsethik des RatSWD einen Abschlussbericht vorlegen, in dem sie Kriterien für den künftigen Ethikcheck in Deutschland entwickelt.

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Dürfen Forscher lügen?

Betroffen sind vor allem im Grenzbereich zu Psychologie und Medizin arbeitende Ökonomen und die aktuellen Boomdisziplinen der VWL wie Spieltheorie und experimentelle Wirtschaftsforschung. Hier geht es darum, in Feldstudien oder Laborversuchen mit Probanden das menschliche Verhalten zu erforschen. Darf zum Beispiel ein Professor unerfahrene Nachwuchswissenschaftler für eine Studie über den Drogenmarkt in kriminelle Milieus schicken, um Interviews mit Dealern zu machen? Dürfen Ökonomen in Laborexperimenten die Probanden in Situationen bringen, die diese psychisch belasten? Dürfen sie Kinder einbeziehen? Dürfen Testpersonen angelogen, provoziert und mit falschen Informationen versorgt werden, um ihre Reaktion zu testen?

Die Freiheit der Forschung

Dass solche Fragen nicht ignoriert werden sollten, ist in der Zunft unbestritten. „Für ethische Fragen der Forschung haben wir in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften noch keine gute Sensorik. Hier steht uns ein schwieriger Lernprozess bevor“, bekennt Ökonomin Riphan. Und DIW-Mann Wagner fordert, schon in der Lehre und insbesondere der Doktorandenausbildung einen Ethikblock einzubauen und dort „Grundsätze der Selbstreflexion zu vermitteln“.

Die größten Ökonomen
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Gustav Stolper war Gründer und Herausgeber der Zeitschrift "Der deutsche Volkswirt", dem publizistischen Vorläufer der WirtschaftsWoche. Er schrieb gege die große Depression, kurzsichtige Wirtschaftspolitik, den Versailler Vertrag, gegen die Unheil bringende Sparpolitik des Reichskanzlers Brüning und die Inflationspolitik des John Maynard Keynes, vor allem aber gegen die Nationalsozialisten. Quelle: Bundesarchiv, Bild 146-2006-0113 / CC-BY-SA
Der österreichische Ökonom Ludwig von Mises hat in seinen Arbeiten zur Geld- und Konjunkturtheorie bereits in den Zwanzigerjahren gezeigt, wie eine übermäßige Geld- und Kreditexpansion eine mit Fehlinvestitionen verbundene Blase auslöst, deren Platzen in einen Teufelskreislauf führt. Mises wies nach, dass Änderungen des Geldumlaufs nicht nur – wie die Klassiker behaupteten – die Preise, sondern auch die Umlaufgeschwindigkeit sowie das reale Produktionsvolumen beeinflussen. Zudem reagieren die Preise nicht synchron, sondern in unterschiedlichem Tempo und Ausmaß auf Änderungen der Geldmenge. Das verschiebt die Preisrelationen, beeinträchtigt die Signalfunktion der Preise und führt zu Fehlallokationen. Quelle: Mises Institute, Auburn, Alabama, USA
Gary Becker hat die mikroökonomische Theorie revolutioniert, indem er ihre Grenzen niederriss. In seinen Arbeiten schafft er einen unkonventionellen Brückenschlag zwischen Ökonomie, Psychologie und Soziologie und gilt als einer der wichtigsten Vertreter der „Rational-Choice-Theorie“. Entgegen dem aktuellen volkswirtschaftlichen Mainstream, der den Homo oeconomicus für tot erklärt, glaubt Becker unverdrossen an die Rationalität des Menschen. Seine Grundthese gleicht der von Adam Smith, dem Urvater der Nationalökonomie: Jeder Mensch strebt danach, seinen individuellen Nutzen zu maximieren. Dazu wägt er – oft unbewusst – in jeder Lebens- und Entscheidungssituation ab, welche Alternativen es gibt und welche Nutzen und Kosten diese verursachen. Für Becker gilt dies nicht nur bei wirtschaftlichen Fragen wie einem Jobwechsel oder Hauskauf, sondern gerade auch im zwischenmenschlichen Bereich – Heirat, Scheidung, Ausbildung, Kinderzahl – sowie bei sozialen und gesellschaftlichen Phänomenen wie Diskriminierung, Drogensucht oder Kriminalität. Quelle: dpa
Jeder Student der Volkswirtschaft kommt an Robert Mundell nicht vorbei: Der 79-jährige gehört zu den bedeutendsten Makroökonomen des vergangenen Jahrhunderts. Der Kanadier entwickelte zahlreiche Standardmodelle – unter anderem die Theorie der optimalen Währungsräume -, entwarf für die USA das Wirtschaftsmodell der Reaganomics und gilt als Vordenker der europäischen Währungsunion. 1999 bekam für seine Grundlagenforschung zu Wechselkurssystemen den Nobelpreis. Der exzentrische Ökonom lebt heute in einem abgelegenen Schloss in Italien. Quelle: dpa
Der Ökonom, Historiker und Soziologe Werner Sombart (1863-1941) stand in der Tradition der Historischen Schule (Gustav Schmoller, Karl Bücher) und stellte geschichtliche Erfahrungen, kollektive Bewusstheiten und institutionelle Konstellationen, die den Handlungsspielraum des Menschen bedingen in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. In seinen Schriften versuchte er zu erklären, wie das kapitalistische System  entstanden ist. Mit seinen Gedanken eckte er durchaus an: Seine Verehrung und gleichzeitige Verachtung für Marx, seine widersprüchliche Haltung zum Judentum. Eine seiner großen Stärken war seine erzählerische Kraft. Quelle: dpa
Amartya Sen Quelle: dpa

Doch die Ethikprüfung birgt auch Risiken. Zum einen droht den ohnehin mit viel Papierkram belasteten Ökonomen noch mehr Bürokratie. „Nationale und internationale Erfahrungen lehren, dass die Formalisierung von ethischen Fragestellungen im Forschungsprozess zu einer als unangemessen empfundenen Bürokratisierung und Regulierung der Forschung führen kann“, heißt es im Entwurf des Abschlussberichts der AG Forschungsethik. Würden dann auch noch bestehende Prüfverfahren der Medizin ungefiltert auf die Ökonomie übertragen, könne dies „schwerwiegende negative Auswirkungen auf die Freiheit, Qualität und methodologische Vielfalt der sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Forschung“ haben. Wie es nicht laufen sollte, zeigt etwa das Beispiel Kanada. Hier sei laut Wagner rund um das Ethiksiegel „eine regelrechte Beratungs- und Zertifizierungsindustrie entstanden“.

Nicht ausgeschlossen ist auch, dass manche Wissenschaftler den Aufwand der Ethikprüfung scheuen und lieber 08/15-Forschung betreiben. Vor allem aber könnte die Freiheit der Forschung berührt sein, schließlich lässt sich nicht ausschließen, dass Ethikkommissionen je nach Zusammensetzung und Standort ihre eigene Agenda haben und unterschiedliche Maßstäbe anlegen.

DIW-Ökonom Wagner geht das Problem derweil pragmatisch an: Es gibt erste Gespräche, ob Forscher, die mit Daten des Sozio-oekonomischen Panels arbeiten, ihren Stempel bei der Ethikkommission des benachbarten Wissenschaftszentrum Berlin bekommen können.

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