Euro-Krise Die Unabhängigkeit der EZB ist reine Fiktion

Nullzinspolitik, Anleihekäufe, Bankenaufsicht – nie war die Macht der EZB größer und die Kapitulation vor der Politik so total. Die Unabhängigkeit der Geldpolitik hat sich in eine königliche Knechtschaft gewandelt.

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Die EZB ist zum Spielzeug der Politik geworden.

Ein harmlos klingender Satz, acht Worte nur: „Der Euro ist weit mehr als eine Währung.“ Angela Merkel hat ihn gesagt, vergangene Woche im Bundestag, und natürlich nickten sie alle im Plenum, pflichtschuldig, ernst, jawohl: „Der Euro ist weit mehr als eine Währung.“ Keinem im Saal ging das Ungeheuerliche dieses Satzes auf, keiner spürte seinen verborgenen Sinn, keiner hörte durch ihn hindurch, was die Kanzlerin ein für alle Mal klarstellte, indem sie es ausdrücklich nicht sagte: Schon die Annahme, die Europäische Zentralbank (EZB) sei unabhängig, ist Unfug.

Denn wenn der Euro mehr ist als eine Währung, dann schlägt die Stunde der Politik. Dann ist Preisstabilität kein Wert mehr an sich. Dann ist der richtige Mix aus Wirtschafts-, Finanz- und Geldpolitik gefragt und die unabhängige Geldmengensteuerung der Notenbanken ein Frevel, weil sie keinem höheren Zweck, dem Wohl Europas und seiner Bürger, sondern einem abstrakten Partikularinteresse, dem Wohl der Währung, dient.

Dass die Notenbank das inzwischen genauso sieht und sich nur noch als Ausführungsorgan einer in Berlin, Paris und Brüssel abgemischten Euro-Rettungspolitik versteht, hat vergangene Woche EZB-Chef Mario Draghi mit seinem Besuch im Bundestag eindrucksvoll bestätigt. Seine Visite diente nicht etwa der Verteidigung einer Zinspolitik, die unabhängig von politischen Augenblicksinteressen nach einem angemessenen Preis des Geldes fragt, sondern im Gegenteil: Draghi warb um Verständnis für die Preisgabe aller notenbanklichen Souveränität!

Verstehen können das nur noch Geübte in höherer Dialektik: Die EZB entledigt sich ihrer geldpolitischen Freiheit und lässt sich von der Politik in den Dienst nehmen, um sich als Sachwalter der Politik dafür zu rechtfertigen, von ihr mit allzu großen Befugnissen ausgestattet zu sein. Nullzinspolitik, Anleihekäufe, demnächst auch noch die Bankenaufsicht in Europa – die EZB hat ihre Selbstständigkeit verloren, um an Zuständigkeit zu gewinnen. Nie zuvor war ihre Macht größer – und nie zuvor ihre Selbstbestimmtheit so gering.


"Der Euro reißt uns mit in die europäische Zukunft"

Sicher, schon Helmut Kohl hat seine Richtlinienkompetenz auf das Gebiet der Geldpolitik erstreckt, wann immer er den historischen Ausnahmezustand gekommen sah. Als Bürger sei er froh, dass die Bundesbank unabhängig sei, hat er einmal gesagt; als Kanzler degradierte er sie zur Agentur seiner politischen Großziele, der Deutschen Einheit und der Europäischen Union. Besonders einprägsam hat Kohl den Deutschen die Sache mit den Politik-Köchen und den Notenbank-Kellnern am Abend vor der Euro-Einführung erklärt: „Für mich geht mit der gemeinsamen Währung ein Traum in Erfüllung“, so Kohl, und die Realisierung dieses Traums sei richtig gewesen, Kosten hin, Bedenken her: „Der Weg der Einigung unseres Kontinents ist damit unumkehrbar.“

Europa mit dem Euro zusammenschließen, das war Kohls Utopie, Kohls Vision, und natürlich: Der Mir-nach-Kanzler hat sie gegen alle Einwände durchgesetzt, ist kompasssicher vorneweg marschiert, der Morgenröte einer Föderation friedlich gestimmter Nationalstaaten entgegen. Und – sind sie ihm nicht alle gefolgt, die „selbst ernannten Experten“ in Frankfurt, denen der Sinn für die geschichtliche Dimension des Euro fehlte, die Ökonomen und Währungshüter, die das europäische „Schlüsselprojekt“ mit ihrer kleinkrämerischen D-Mark-Seligkeit beinahe zerredet hätten? Der Euro war da, Europa vollendet und der Rest reine Formsache, jubelte Kohl: „Er reißt Portugiesen und Finnen, Griechen und Österreicher ebenso wie uns Deutsche mit in die europäische Zukunft.“

Heute wissen wir, dass der Euro die Rechtsvorschriften der EU, das Stabilitätsversprechen der EZB und deren geldpolitische Unabhängigkeit mitreißt – und zwar in den Abgrund. Europa hat tatsächlich „den Rubikon überschritten“, wie Kohl damals weissagte: Die Unwiderruflichkeit der europäischen Einigung hat sich zu einem säkularen Dogma verfestigt, dem das Opfer des Geldwerts, der Prosperität und der ordnungspolitischen Grundsätze gebracht werden muss. Die Autonomie der EZB und ihre gesetzlich verankerte Selbstverpflichtung, Inflationsgefahren vorzubeugen, ist spätestens seit ihrem Beschluss, notfalls unbegrenzt staatliche Schuldtitel zu kaufen, reine Fiktion.


Zentralbanker sind als Notärzte im Dauereinsatz

Kaum schlägt die Politik Alarm, weil sie die akute Gefahr eines Zusammenbruchs des Finanzsystems höher einschätzt als die schleichende Gefahr eines chronisch kranken Geldsystems – schon sind die Zentralbanker nicht mehr präventivmedizinisch für die Gesundheit der Währung unterwegs, sondern als Notärzte im Dauereinsatz, um eine schwerverletzte Oligarchie von Investmentbankern vor sich selbst und dem Massenexitus schuldenkomatöser Staaten zu retten.

Wie umfassend, ja: total die Politisierung der EZB ist, zeigt sich an der königlichen Knechtschaft, mit der die Notenbanker heute in Europa zugleich herrschen und gehorchen, an der Ununterscheidbarkeit ihrer Freiheit und Hörigkeit. Die EZB ist grenzenlos mächtig, weil sich die Politik eine selbst verantwortete Lösung der Schuldenkrise – Rückkehr zu nationalen Währungen, Schuldenschnitt, Gläubigerhaftung, Tilgungsfonds – nicht zugetraut und stattdessen das Kollegium der Währungshüter zu einer Art Notstandsregierung aufgewertet hat. Und die EZB ist grenzenlos ohnmächtig zugleich, weil sie sich mit der Übernahme finanzpolitischer Aufgaben zum Erfüllungsgehilfen einer feigen Politik erniedrigt.

Schlimmer noch: Die EZB hat nicht nur ihre Unabhängigkeit von der Politik eingebüßt; auch die Unabhängigkeit selbst ist (ihr) zum Problem geworden. Als Hüter der Geldwertstabilität war sie ein Eckpfeiler im demokratischen System der checks and balances, eine unbestechliche Institution, die nicht trotz, sondern wegen ihrer Politikferne das Vertrauen der Bürger genoss. Als Durchführungsagentur der Regierenden zur Herstellung einer europäischen Haftungsunion hingegen ist sie ein bürokratisches Expertengremium, dessen Demokratiedefizit eine Bedrohung darstellt.

Hat man den semantischen Schwenk erst einmal vollzogen, ist die „Unabhängigkeit“ der Zentralbanken kein schützenswertes Gut mehr, sondern eine Beute der Politik – und die tradierte Erzählung von der geldpolitischen Autorität der Notenbanker kann spielend umgedeutet werden zum Ammenmärchen von der Anmaßung elitärer Zinsakrobaten, die der demokratischen, sprich: politischen Kontrolle bedürfen. So gesehen, hat die Politik die unabhängig-abhängige EZB gleich zweifach gekapert: funktionell und ideell. Sie nimmt die Passiva staatlicher Kreditexpansionen und verfehlter Defizitziele in ihre Bücher auf, darf zur Belohnung gegen die ihr ursprünglich zugedachte Bestimmung verstoßen, die Stabilität der Währung zu garantieren – und muss der Politik auch noch dankbar dafür sein, dass sie für die Verletzung ihres Mandats mit einem Machtzuwachs bedacht wird, der ihr Ansehen beschädigt.

Dass Jens Weidmann das als Beschädigung seines Amtes, ja als Verhöhnung seines beruflichen Selbstverständnisses empfindet, kann man ihm kaum verdenken. Der Bundesbank-Chef hat vor einigen Wochen mit großem medialem Aufwand eine rote Linie markiert („keine Staatsfinanzierung durch die EZB“), ganz so, wie auch Angela Merkel („keine Euro-Bonds, solange ich lebe“) es getan hat – mit dem Unterschied, dass Weidmann seine Linie überschreiten musste, um Merkel eine Blamage zu ersparen.


Weidmann reiht sich in Galerie gedemütigter Bundesbank-Chefs

Auch beim Thema der Bankenaufsicht, die die EU der EZB anvertrauen will, meldet Weidmann nun Bedenken an: Der Zielkonflikt zwischen der Aufgabe, für Preisstabilität zu sorgen, und der Aufgabe, notfalls darüber zu befinden, ob ein Geldinstitut in die Insolvenz entlassen wird oder nicht, ist unaufhebbar. Rettungspolitik ist immer Konjunktur- und Billiggeld-, sprich: Marktverzerrungspolitik. Eine organisatorische Trennung der beiden Aufgaben unter dem Dach der EZB wiederum ist keine Gewähr für eine „unabhängige“ Geldpolitik, wie uns die europäischen Finanzminister glauben machen wollen, im Gegenteil, sie treibt die Politisierung der EZB auf die dialektische Spitze: Die nominelle Unabhängigkeit der EZB dient der Politik künftig als Vorwand und Vehikel, um sie endgültig ihrer parlamentarischen Kontrolle zu unterwerfen.

Jens Weidmann scheint sich damit in die Ahnengalerie gedemütigter Bundesbank-Chefs einzureihen, die sich zwar tapfer gegen eine angeblich alternativlose Politik stemmen, am Ende aber nur die Wahl haben zwischen Rücktritt und Resignation. Vier Beispiele: Im Februar 1990 setzt Helmut Kohl gegen den Widerstand von Karl Otto Pöhl („sehr phantastisch“) seine Forderung nach einer einheitlichen deutschen Währung und einem Umtauschkurs zur Ostmark von 1:1 durch. Im September 1992 unterwirft sich Helmut Schlesinger dem politischen Diktat, die Währungsparität von Mark und Franc als Basis des späteren Euro für unverbrüchlich zu er- » » klären. In den späten Neunzigerjahren winkt Hans Tietmeyer die Abschaffung der D-Mark durch – ganz so, wie es die Abgeordneten aller Parteien im Bundestag beschlossen hatten. Und im April 2011 streicht Axel Weber die Segel, weil er, wie Weidmann heute, die politische Vergiftung der Geldpolitik nicht mittragen will.

Hans Tietmeyer hat sich damals wohl noch der Hoffnung hingeben können, die EZB „nach dem Modell der Bundesbank konstruiert“ zu haben. Der Einzug der EZB-Beamten in den Frankfurter Eurotower sollte die translatio imperii der Bundesbank-Prinzipien auf die europäische Ebene symbolisieren: Garantie der Unabhängigkeit und Fortbestand des Preisstabilitäts-Primats. Und tatsächlich, in Artikel 130 des EU-Vertrags verpflichten sich Regierungen und EU-Organe, sich jeglichen Einflusses auf die Geldpolitik zu enthalten. Doch der Glaube an die juristisch fixierte Festigkeit einer Institution, die über dem politischen Tagesgeschäft steht, trog gewaltig: Wenn die Politik sich über das Recht stellt, ist jede Institution nur so stark wie das schwankende, von Stimmen und Stimmungen abhängige politische Gegenwartsinteresse.


Eine Wachstums- und Wohlstandsillusion

Die deutschen Notenbanker haben die politische Europa-Dynamik, die niedrigzinslich begünstigte Reformunlust etwa in Griechenland und Frankreich, die Spekulationswut der Banker und die Eigengesetzlichkeiten eines finanzmarktliberalen Staatsschuldenkapitalismus massiv unterschätzt – und es für unmöglich gehalten, dass die EZB auf die schiefe Ebene gerät. Sie glaubten, dass Inflationsvermeidung ein allgemein akzeptiertes Ewigkeitsziel sei und das Verbot der Staatsfinanzierung durch die EZB in Bronze gegossenes Recht – bis EZB-Chef Jean-Claude Trichet vor zwei Jahren anfing, Schuldtitel von Krisenländern zu kaufen, um einem hoffnungslos ineinander verwickelten, privat-öffentlichen Staat-Banken-Komplex von sich wechselseitig stützenden Gläubigern und Schuldnern den Ruin zu ersparen.

Seither befinden sich die Regierungen der Industrieländer und die wichtigsten Notenbanken der Welt in einem internationalen Abwertungswettlauf. Sie alle folgen einer einfachen Logik: Wer jetzt nicht mitmacht bei der globalen Gelddruck-Party, wertet seine Währung auf und verschafft seiner labilen Volkswirtschaft in einer prekären Situation einen Wettbewerbsnachteil. Sie alle stützen daher marode Banken und suchen sich mit künstlich niedrigen Zinsen kurzfristig aus der Krise herauszumogeln, um ihre horrenden Schulden mittelfristig weginflationieren zu können – im sicheren Wissen, dass das künftige realwirtschaftliche Wachstum niemals ausreichen wird, um die angehäuften Verbindlichkeiten abzulösen.

Kurzum: Zwecks Vermeidung kurzfristiger Schocks riskiert ein Bündnis aus Regierungen und Notenbankern, Währungen und Volkswirtschaften zu zerstören – und Privatvermögen im Wege der financial repression (Schuldenabbau durch Niedrigzinsen und Inflation) zu vernichten. Längst ist die EZB zur Bad Bank einer toxischen Politik mutiert. Die Kontrolle über die Geldschöpfung droht ihr zu entgleiten; das sogenannte Basisgeld – die Summe aus Bargeld und Einlagen der Banken bei der EZB – hat sich seit Januar 2008 auf 1,7 Billionen Euro verdoppelt. Längst akzeptiert die EZB Ramschpapiere als Sicherheit, um sieche Banken mit frischem Geld zu versorgen – aktuell sind es 1,2 Billionen Euro. Und natürlich kauft die EZB Staatsanleihen, um kranken Ländern die Refinanzierung zu sichern – für mittlerweile 280 Milliarden Euro. Kein Wunder, dass die Notenbankbilanz seit 2008 von 1,4 auf 3,1 Billionen Euro angeschwollen ist.

Was die Zahlen in Worten bedeuten, ist die Verzögerung eines Doppelbankrotts: einer nachfrageorientierten Wirtschafts- und Sozialpolitik einerseits – und einer politisch infizierten Geldpolitik andererseits. Die Regierungen haben ihre Staatshaushalte mit einem Impulsmix aus sozialdemokratischen Ausgabenprogrammen und liberalen Steuersenkungen systematisch zugrunde gerichtet. Und die Notenbanken haben mit zinskeynesianischen Mitteln versucht, eine Wachstums- und Wohlstandsillusion aufrechtzuerhalten, die nicht nur jeglicher realwirtschaftlichen Grundlage entbehrt, sondern in deren Folge auch, so Thomas Meyer, Ex-Chefvolkswirt der Deutschen Bank, die Vermögenspreise und Verschuldung „vollkommen aus dem Ruder gelaufen sind“.

Besonders die Niedrigzinspolitik der US-Notenbank Fed hat im schlechtesten Sinne stilbildend gewirkt. Jahrzehntelang hat die Fed aus dem Nichts Geld geschaffen und Amerikaner ermuntert, kostenlose Immobilienkredite aufzunehmen oder Wetten auf steigende Häuserpreise abzuschließen, um der Regierung die Kosten des Sozialstaates zu ersparen. Jahrzehntelang hat sie, im Vertrauen auf die alchimistischen Kräfte der Wall Street, das aus dem Nichts geschaffene Geld finanzmathematisch vermehren zu können, ihre Bürger über endemische Industrie-, Handelsbilanz- und Haushaltsdefizite hinweggetäuscht und damit systematisch in die Verschuldungsfalle getrieben.


Die USA sind ein schlechtes Beispiel

Wie es dazu kommen konnte? Nun – erstens war Geldpolitik in den USA noch nie auf das Primat der Preisstabilität verpflichtet. Das hat vor allem historische Gründe. Anders als im Falle der Deutschen, zu deren wirtschaftsgeschichtlichen Kernerfahrungen Hyperinflation (1923) und Währungsschnitt (1948) gehören, ist das kollektive Gedächtnis der Amerikaner durch die Erfahrung der Großen Depression (1929– 1941) geprägt, in deren Verlauf die Durchschnittslöhne um 60 Prozent sanken und ein Viertel aller Amerikaner arbeitslos wurde. Entsprechend verfolgt die Fed mit ihrer Geldpolitik traditionell auch arbeitsmarktpolitische und konjunkturelle Ziele: Sie soll die Wirtschaft mit einer „Politik des billigen Geldes“ notfalls stützen, Abschwünge abfedern, Krisen dämpfen.

Anders gesagt: Die US-Notenbank begreift ihre Geldpolitik nicht als primäre Voraussetzung, sondern als bloßen Bestandteil einer gelingenden Wirtschafts-, Konjunktur- und Finanzpolitik. Die Identität ihrer politischen Ziele wiederum hat zweitens zur Folge, dass Regierung und Notenbank umso leichter auf die Idee verfallen können, die Finanzindustrie als eine Art Lizenznehmer politischer Interessen ins Spiel zu bringen: Die Regierungen fördern die Märkte, weil sie eine effiziente Agentur für ihr immer heikler werdendes Staatsschulden-Management benötigen. Und den Notenbanken fällt die Zusammenarbeit mit den Kollegen von der Wall Street umso leichter, da sie organisatorisch eng mit privaten Instituten verflochten ist. Das Ergebnis ist eine identische Interessenlage von Regierung, Noten- und Geschäftsbanken, die in Deregulierungsfuror, Dauerniedrigzins und Derivatfreiheit ihren dreifachen Ausdruck findet. Am Ende hat man sich unter „selbstregulierenden Finanzmärkten“ Märkte vorzustellen, die unter der Aufsicht von ostentativ wegsehenden Finanzministern von Noten- und Investmentbankern reguliert werden – wobei die Hauptdarsteller im „Wall-Street-Washington-Komplex“ mal die eine, mal die andere Position bekleiden: Robert Rubin war 26 Jahre bei Goldman Sachs beschäftigt, ehe er unter Präsident Clinton zum Finanzminister abstieg. Henry Paulson, der in gleicher Funktion die Staatsverschuldung unter George W. Bush in aberwitzige Höhen trieb, war bis 2006 gar Chef der Goldmänner.

Die Folgen der politischen Verstrickung der Fed sind verheerend. Sie hat in den vergangenen 25 Jahren vor allem Fehlinvestitionen finanziert und einen Konsum, der vom Leistungsvermögen der US-Wirtschaft nicht gedeckt war. Sie hat kleine Krisen daran gehindert, ihre bereinigende Wirkung entfalten zu lassen – und mit billigem Geld die Grundlage für die nächste, größere Krise gelegt. Den Ausbruch der Finanzkrise stellt man sich daher am besten als Kulminationspunkt einer Wellenbewegung vor: Als Lehman Brothers am 15. September 2008 Insolvenz anmeldete, hatten sich viele kleine Finanzmarktkrisenwogen, aufgepeitscht durch die Fed-Politik des billigen Geldes, zu einem Brecher aufgetürmt, der völlig unkontrolliert die Wirtschaftswelt überspülte. Die Fed hat seit dem Crash des Aktienmarktes 1987 ständig versucht, die Folgen konjunktureller Einbrüche zu lindern – und mit ihrer lockeren Geldpolitik die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass sie sich in der jeweils folgenden Krise immer lockerer machen musste. Das Platzen der japanischen Hauspreisblase (1991), die Asienkrise (1997), das Ende des Internet-Hypes (2001) – jede Krisenintervention erforderte zur Vermeidung eines Abschwungs beim nächsten Mal eine stärkere Intervention.


Die letzten Schamgrenzen fallen

Am Ende der Billiggeld-Spirale aber stehen nicht nur Nullzinsen, Schuldenberge, Inflationsgefahren, sondern auch eine verwüstete Wirtschafts- und Vermögenslandschaft: Wenn Geld nichts kostet, werden zu viele Konsumkredite vergeben. Das hemmt ein gesundes Sparverhalten der Bürger. Das hält Staaten davon ab, ihre Haushalte zu sanieren. Das bläht die Bilanzen der Banken. Das schmälert die Renteneinkommen der Versicherten. Das ermuntert Versicherer, sich in spekulativen Geschäften zu versuchen. Das deroutiert die Finanzmärkte... – und weil die Zinsen am Ende dieser Verhängniskette nicht unter null fallen können, muss die lockere Geldpolitik schließlich aller Fesseln entledigt werden: mit dem Ankauf von Staatsanleihen.

Und genau das ist der Punkt, an dem die Unabhängigkeit der Notenbanken von der Politik mit ihrer Abhängigkeit konvergiert – und die letzten Schamgrenzen fallen. Es ist der Punkt, an dem Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU), der sich immer geweigert hat, „Staatsverschuldung mit der Notenpresse zu finanzieren“, EZB-Chef Mario Draghi einen „großen Europäer“ nennt – weil endlich auch der Notenbanker (der Notenbanker!) begreift, dass man heute die Idee Europa aufwertet, indem man den Euro abwertet.

Die Folge ist, dass sich die Notenbanken damit zu Abteilungen der Finanzministerien degradieren – ganz so, wie es im Absolutismus gang und gäbe war, als die Könige nach Belieben Geld druckten und damit ihre Volkswirtschaften verheerten. Dass dies keine journalistische Zuspitzung ist, zeigt das Beispiel USA: Dort treibt man die Politisierung der Notenbanken ins Extrem. Die Demokraten von Präsident Barack Obama überdrehen die Billiggeld-Spirale ein weiteres Mal, obwohl sie längst nicht mehr zieht – und die Republikaner um Kandidat Mitt Romney vollführen einen tollkühnen dialektischen Purzelbaum, indem sie die Politisierung der Fed, einmal eingestanden, mit der Kontrolle durch das Parlament vollenden wollen – gerade so, als könne man die Symptome der Pest mit der Pest selbst bekämpfen.

Romney sieht sich hier offenbar in der Tradition von Richard Nixon. Der sagte bereits 1970: „Ich respektiere die Unabhängigkeit der Notenbank. Ich hoffe aber, dass diese Unabhängigkeit dazu führt, dass sich die Fed nach meinen Ansichten richtet.“ Heute hofft die Politik nicht mehr auf die Notenbanken. Heute weist sie sie einfach an.

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