Europäische Notenbank Die geldpolitische Raserei der EZB geht weiter

Die Präsidentin der Europäischen Zentralbank, Christine Lagarde, in der Video-Pressekonferenz nach der EZB-Sitzung am 10. Juni 2021: Die Geldschleusen der Notenbank bleiben trotz Inflationsgefahren weit geöffnet. Quelle: imago images

Die Europäische Zentralbank wischt die Inflationsgefahren beiseite und gibt geldpolitisch weiter Gas. Damit wächst die Unfallgefahr für die Wirtschaft.  

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Wer erwartet hat, die Europäische Zentralbank (EZB) erwäge angesichts steigender Verbraucherpreise und zunehmender Ängste der Finanzmärkte vor einer inflationären Zeitenwende, den ultralockeren Kurs der Geldpolitik zurückzufahren, der wurde von Christine Lagarde enttäuscht. Die EZB-Chefin machte auf der Pressekonferenz im Anschluss an die Tagung des EZB-Rats deutlich, dass mit einer Straffung der geldpolitischen Zügel auf absehbare Zeit nicht zu rechnen ist. 

Im Gegenteil. Die Leitzinsen bleiben weiter auf niedrigem Niveau, die Anleihekäufe im Rahmen des Pandemie-Notfallankaufprogramms (PEPP), das einen Gesamtumfang von 1850 Milliarden Euro hat, werden mindestens bis Ende März nächsten Jahres fortgesetzt. Trotz der anziehenden Inflationsraten will die EZB im dritten Quartal dieses Jahres mehr Anleihen im Rahmen des PEPP-Programms kaufen als in den ersten drei Monaten dieses Jahres. 

Die hohen Kaufvolumina der EZB dürften die Kurse stützen und die Zinsen niedrig halten. Faktisch betreibt die EZB eine Politik der Zinskurvenkontrolle. Mit ihren Leitzinsen drückt sie die kurzfristigen Zinsen nach unten, mit ihren umfangreichen Anleihenkäufe die Renditen am Kapitalmarkt. Das Ziel: den hochverschuldeten Regierungen den Zugang zu billigen Krediten zu erhalten. 

von Malte Fischer, Julian Heißler, Rüdiger Kiani-Kreß, Annina Reimann, Peter Steinkirchner

Im Schwitzkasten der Regierungen

Noch ist die EZB bemüht, ihre Dienstbarkeit für die Finanzminister mit dem Verweis auf konjunkturelle Erfordernisse zu kaschieren. So erklärte Lagarde, höhere Kapitalmarktzinsen seien unerwünscht, weil sie die Erholung der Konjunktur gefährdeten. Man darf gespannt sein, mit welchem Argument die EZB ihre Käufe rechtfertigt, wenn Europa demnächst einen Post-Corona-Boom erlebt. Es wird immer offensichtlicher, dass die EZB zum Fiskalagenten der Regierungen mutiert ist, aus deren Schwitzkasten sie sich kaum mehr befreien kann. 

Dazu passt der Versuch Lagardes, die wachsenden Inflationsrisiken klein zu reden. Ausführlich wies sie auf Basis- und Sondereffekte hin, die von den Volten bei den Energiepreisen bis zu den steuerpolitischen Entscheidungen der Regierungen reichen und die Zuwachsrate des Verbraucherpreisindex nach oben treiben. Ein mittelfristiges Inflationsrisiko aber besteht nach Ansicht von Lagarde nicht. Zur Begründung verwies sie auf die nach wie vor hohe Arbeitslosigkeit in der Eurozone. Diese halte die Löhne in Schach und verhindere eine Lohn-Preis-Spirale. 

Dass die Inflation in den USA bereits die Fünf-Prozent-Marke erreicht hat, beunruhigt Lagarde nicht. In Amerika sei der Konjunkturzyklus weiter fortgeschritten als in der Eurozone, erklärte sie. Zudem seien die preistreibenden Impulse von Seiten der Fiskalpolitik durch die milliardenschweren Konjunkturprogramme der Biden-Administration viel größer als in der Eurozone. 

Die Inflationserwartungen steigen

Das stimmt. Doch was Lagarde nicht sehen will: Auch Europa steht angesichts des voranschreitenden Impfprozesses vor einem kräftigen Aufschwung. Davon wird der Arbeitsmarkt profitieren. Die Überkapazitäten dort könnten schneller abnehmen als erwartet, die Löhne kräftiger steigen. So ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad in Europa höher als in den USA. Den Arbeitnehmervertretern fällt es dadurch leichter, zum Ausgleich steigender Inflationsraten höhere Löhne durchzusetzen. Zumal die Erfahrung zeigt, dass sich die Gewerkschaften nicht so sehr um das Schicksal derjenigen kümmern, die ihren Job verloren haben, sondern um die Reallohnsicherung ihrer Mitglieder in den Beitrieben. Das gilt vor allem dann, wenn die Inflationserwartungen steigen.  

Eine vorausschauende Geldpolitik müsste dies in den Blick nehmen und den Ausstieg aus den Anleihekäufen jetzt einleiten. Weil sich die Märkte in all den Jahren seit der Finanzkrise daran gewöhnt haben, im Geld zu schwimmen, erfordert der Exit aus der Geldflut viel Fingerspitzengefühl. Je früher die EZB ihn einleitet, desto geringer ist die Gefahr, dass es dabei zu größeren Unfällen kommt. 

Zwischen Skylla und Charybdis

Dazu kommt: Nur mit einem konsequenten Abschied von der lockeren Geldpolitik kann sich die EZB aus der Umklammerung der Finanzminister befreien und diese zu wachstumssteigernden Reformen bewegen. Aus der fiskalischen Dominanz würde dann eine monetäre Dominanz, so wie sie in den Achtzigerjahren herrschte. Damals gaben die Zinsentscheidungen der Zentralbanken und die Sanktionsmechanismen der Kapitalmärkte den Finanzministern den Rahmen vor, innerhalb dessen sie sich stabilitätspolitisch unfallfrei bewegen konnten. 

Zu einem solchen befreienden Kraftakt aber ist die EZB nicht bereit. Denn längst haben die Vertreter der hochverschuldeten Südländer in der Frankfurter Währungsbehörde die Mehrheit und somit das geldpolitische Sagen. In der wirtschaftspolitischen DNA dieser Länder gibt es keine monetäre Dominanz, nur die Dienerschaft der Zentralbank gegenüber der Regierung. Und so setzt die EZB weiter die geldpolitischen Scheuklappen auf und gibt geldpolitisch Vollgas.

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Ob sie den Geist der Inflation kontrollieren kann, den sie gerufen hat, wenn dieser aus der Flasche entweicht, ist fraglich. So könnte sich für die EZB schon bald die Wahl zwischen Skylla und Charybdis stellen: geldpolitische Notbremsung mit Staatsschuldenkrise - oder weiter Gas geben mit Geldkrise. 

Mehr zum Thema: Klimawandel, Genderfragen, Kampf gegen Rassismus: Die großen Notenbanken schicken sich an, mit den Instrumenten der Geldpolitik die politisch angesagten Ziele unserer Zeit zu unterstützen.

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