Carsten Linnemann ist Mitglied der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und ehemaliger Chef der Mittelstands- und Wirtschaftsunion MIT. Klaus Wiener ist CDU/CSU-Bundestagsabgeordneter.
Es war die Überraschung des vergangenen Jahres: Der massive Inflationsschub. In den USA und in Deutschland wurden Raten gemessen, wie man sie zuletzt vor 30 Jahren gesehen hatte. Noch gravierender ist der Anstieg bei den gewerblichen Erzeugerpreisen. Hier wurde in Deutschland zum Jahresende mit fast 25 Prozent im Vorjahresvergleich der höchste Wert seit den Fünfzigerjahren markiert. Das Bemerkenswerte daran: Damit wurden selbst die ölpreisbedingten Preisschübe der Siebziger in den Schatten gestellt.
Ein solcher Inflationsanstieg ist in vielerlei Hinsicht ein Problem. Er belastet die Altersvorsorge in einem Umfeld fortgesetzt niedriger Zinsen oder schmälert die Kaufkraft von Menschen, die von einem festen Einkommen leben - also Arbeiter, Angestellte oder Rentner. Grund zu großer Sorge ist er aber vor allem dann, wenn er den Beginn einer Phase mit dauerhaft höherer Inflation markiert. Genau über diese Frage wird derzeit heftig gestritten. Einige halten den Anstieg für ein vorübergehendes Phänomen, darunter auch hochrangige EZB-Vertreter oder die Bundesregierung, die dem drängenden Thema Inflation im neuesten Jahreswirtschaftsbericht nur wenige Zeilen widmet.
Wir sehen in dem aktuellen Inflationsanstieg einen Paradigmenwechsel mit dauerhaft höheren Geldentwertungsraten. Sieht man sich die Ursachen für den Preisauftrieb der vergangenen Monate genauer an, so gibt es durchaus Gründe anzunehmen, dass sich der Teuerungsschub als vorübergehend erweisen wird. Da ist zum einen ein kräftiger Basiseffekt, der sich aus dem Preisverfall bei Rohstoffen im Frühjahr des Jahres 2020 ergeben hat. Selbst wenn die Preise im Jahr 2021 in der entsprechenden zeitlichen Phase stabil geblieben wären, wäre die im Vorjahresvergleich gemessene Inflationsrate gestiegen. Inflation misst immer die Rate, mit der sich Preise ändern, nicht deren Höhe. Dieser Basiseffekt läuft 2022 aus und wird daher rein mathematisch zu niedrigeren Inflationsraten führen.
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Ein weiteres Argument ist die Störung der Lieferketten, die sich aus der Corona-Pandemie ergeben. Schiffe dürfen zum Beispiel in China nicht anlanden, wenn Fälle von Corona an Bord sind. Weltweite Lieferengpässe für Stahl, Holz oder Aluminium haben dazu geführt, dass die Preise dieser Vorprodukte massiv gestiegen sind. Unter der Annahme, dass im Jahr 2022 Fortschritte bei der Bekämpfung der Pandemie gelingen, dürfte ein Teil der Lieferengpässe überwunden werden.
Die Inflationsraten dürften im Verlauf des Jahres also tendenziell fallen. Die Gretchenfrage ist aber, wie stark dieser Rückgang ausfallen wird. Unseres Erachtens ist eine Rückkehr zu den sehr niedrigen Inflationsraten der Vorkrisenjahre unwahrscheinlich. Wir erwarten aus einer Reihe von Gründen eine dauerhaft erhöhte Inflation von signifikant über zwei Prozent. Damit ist das geldpolitische Ziel, den Preisauftrieb bei rund zwei Prozent zu halten, in akuter Gefahr.
1. Energiewende
Die Klimafrage wird fraglos auch in den nächsten Jahren die Politik maßgeblich beschäftigen. Zentrales Instrument ist der CO2-Preis. Er wird in jedem Fall steigen, ganz gleich ob mit marktbasiertem Emissionshandel oder in Form eines politisch festgelegten Preises. Damit werden fossile Brennstoffe dauerhaft teurer; ein globaler Rohstoff-Superzyklus droht. Dieser Effekt wird dadurch verstärkt, dass immer weniger private Investitionen in herkömmliche Energieträger erfolgen, so dass sich hier Knappheitspreise herausbilden werden. Als wesentlicher Inputfaktor in vielen Produktionsprozessen werden damit auch die Preise auf den nachgelagerten Stufen steigen.
2. Digitalisierung
In der letzten Zeit ist sehr deutlich geworden, dass das weltweite Angebot an Halbleiterprodukten unzureichend ist. Dies hat mehrere Gründe. Zum einen hat die Corona-Pandemie ein Digitalisierungsschub ausgelöst, der in den kommenden Jahren anhalten wird. Hinzu kommen Weiterentwicklungen wie das autonome Fahren oder intelligente Stromnetze. Für all das wird der Bedarf an Mikrochips massiv steigen. Es wird Jahre dauern, bis das Angebot die zusätzliche Nachfrage stillen kann, so dass auch in diesem wirtschaftlich wichtigen Segment der Preisdruck hochbleiben wird.
3. Lohndruck
Viele Jahre haben wir darüber diskutiert, nun ist es so weit. Die Babyboomer-Generation geht in diesem Jahrzehnt in Rente. Daraus resultiert ein Fachkräftemangel, der den Lohndruck dauerhaft erhöhen wird. Erste Anzeichen hierfür erleben wir bereits in Sektoren wie dem Gesundheitswesen oder der Baubranche.
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4. Corona-bedingter Nachholbedarf
In den Jahren 2020 und 2021 haben Schließungen und Zugangsregeln zu den Geschäften die Konsummöglichkeiten der privaten Verbraucher erheblich eingeschränkt. In der Folge sind die Sparquoten drastisch gestiegen. Hieraus resultiert ein Sparüberhang, der Schätzungen zufolge zwölf Prozent des Bruttoinlandsproduktes in den USA und rund vier Prozent in Deutschland beträgt. In dem Maße wie die Corona-Pandemie in den kommenden Jahren überwunden wird, dürfte sich zumindest ein Teil dieses erhöhten Sparangebots in zusätzlicher Nachfrage entladen und somit den Inflationsdruck erhöhen.
5. Re-Nationalisierung von Lieferketten
Die Corona-Pandemie hat den Kritikern des internationalen Handels neuen Aufwind gegeben, zu groß sei die Abhängigkeit vom Ausland. Als Reaktion darauf werden eine höhere Lagerhaltung und eine Re-Nationalisierung der Lieferketten gefordert. Schon zuvor hatte es der internationale Handel ohnehin schwer. Multilaterale Handelsabkommen wie TTIP und CETA finden in großen Teilen der Bevölkerung keine Akzeptanz. Auf diese Weise gehen wertvolle komparative Kostenvorteile verloren, was Druck auf die Preise auslöst.
6. Demografie
Mit dem Übergang der Babyboomer-Generation in die Rente verschiebt sich die Alterspyramide – mit Ausnahme Afrikas – auf der gesamten Welt deutlich. Ein steigender Anteil von Rentnern und Pensionären bedeutet, dass der relative Anteil der Konsumnachfrage zu Lasten der Produktion steigt. Anders formuliert: Die Inflation ist in der Vor-Corona-Zeit trotz niedriger Zinsen unter anderem auch deshalb gering geblieben, weil die geburtenstarken Jahrgänge lieber für ihren Lebensabend sparen als konsumieren wollten. Wenn diese nun in die Rente eintreten und ihre Ersparnisse auflösen, um damit ihren Lebensstandard mitzufinanzieren, werden die Preise deutlich steigen.
7. Finanzpolitik
Mit Ausbrechen der Corona-Pandemie hat sich die Finanzpolitik schlagartig geändert. Während man nach der Finanzmarktkrise 2008 überwiegend darauf bedacht war, die Haushalte zu konsolidieren, wird nun durch das Auflegen von großen Hilfsprogrammen auf einen nie da gewesenen Expansionskurs umgeschwenkt. Weltweit summieren sich laut IWF die direkten und indirekten Hilfsmaßnahmen auf knapp 17 Billionen US-Dollar beziehungsweise mehr als 16 Prozent des Weltsozialprodukts. Dieser Nachfrageschub hat in einem Umfeld knapper Angebotskapazitäten den Preisdruck erhöht. Und da viele Programme auf längere Zeit angelegt sind, wird dieser Effekt nachlaufen.
Zudem wird darüber nachgedacht, neue Schuldenquellen zu erschließen. Jüngstes Beispiel ist die von den Präsidenten Draghi und Macron vorgebrachte Initiative, der EU ein weiteres Verschuldungsrecht einzuräumen. Nur so seien der Neustart nach der Pandemie und die Dekarbonisierung der gesamten Gesellschaft zu stemmen. Argumente, die auch hier in Deutschland zu immer neuen Verschuldungsinitiativen führen dürften.
8. Geldpolitik
In diesem Zusammenhang sei auch noch einmal an das Ausmaß der geldpolitischen Lockerungen der letzten Jahre erinnert. Die Geldmenge M0 (bestehend aus Bargeld und den Sichteinlagen der Geschäftsbanken bei der Notenbank) wurde im Euroraum in den Jahren seit 2008 nahezu verachtfacht. Der daraus resultierende Geldüberhang in Höhe von knapp fünf Billionen Euro hat den Inflationsdruck bislang nur deshalb nicht verstärkt, weil das Geld auf den Konten der Geschäftsbanken und der EZB (Einlagenfazilität) gehortet wird. Das dies dauerhaft so bleibt, ist nicht garantiert. Im Gegenteil: Mit zunehmender wirtschaftlicher Normalisierung besteht in den kommenden Jahren die Gefahr, dass ein Großteil dieses Geldes nachfragewirksam wird.
Ob die Notenbanken in diesem Umfeld die Kraft haben, dass einmal geschaffene Geld wieder einzusammeln, ist unsicher. Zumindest sind Zweifel angebracht. Zu stark gestiegen sind im Zuge der langgestreckten Nullzinspolitik die Schuldenstände der Staaten und die Kurse auf den Finanzmärkten. Bekannt sind diese Phänomene unter dem Namen fiskalische und finanzielle Repression. Konkret stellt sich die Frage, ob sich die EZB überhaupt traut, die Zinsen zu erhöhen – stark verschuldeten Ländern wie Frankreich oder Italien würde sie damit die Kreditaufnahme massiv erschweren. Der Lackmustest dafür dürfte in den kommenden Jahren ins Haus stehen.
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Was jetzt zu tun ist
Gefordert sind nun vor allem die Notenbanken. Sie müssen rasch glaubhafte Strategien zum Ausstieg aus dem Krisenmodus der letzten Jahre vorlegen und erste Schritte zur Normalisierung ihrer Geldpolitik einleiten. Erfreulich sind hier die deutlichen Signale von der US-Notenbank. Sie hat zuletzt in Aussicht gestellt, dass sie zügig aus den Ankaufprogrammen aussteigen und die Leitzinsen anheben wird. Und die Bank von England hat die Marktteilnehmer jüngst sogar mit einer ersten Zinsstraffung überrascht.
Bei der EZB ist von alldem leider bislang nichts zu sehen. Im Gegenteil: Kurz vor dem deutlichen Anziehen der Preise hat sie sogar ihr Inflationsziel aufgeweicht. Statt „unter, aber nahe zwei Prozent“ strebt die Notenbank neuerdings eine jährliche Inflation von zwei Prozent an und toleriert nun sogar eine zeitweise Überschreitung. Gleichzeitig sucht sie sich neben der Geldwertstabilität neue Ziele und Betätigungsfelder wie den Klimaschutz.
Im Ergebnis werden zunehmend Hausaufgaben der (Wirtschafts-)Politik bei der Notenbank abgeladen. So verlockend es auch für Politiker sein mag, ihre Ausgaben von der Notenbank und nicht vom Steuerzahler finanzieren zu lassen, sollten bei den Währungshütern alle Alarmglocken schrillen: Die fiskalische Dominanz über die Geldpolitik führt unweigerlich dazu, dass das ursprüngliche Ziel der Preisstabilität in Gefahr gerät.
Wachsam muss aber auch die Finanzpolitik bleiben. Eine Fortsetzung des Kurses der vergangenen Jahre, der erhebliche Nachfrage in einem Umfeld knapper Angebotskapazitäten geschaffen hat, darf so nicht weiter gehen. Natürlich muss die Finanzpolitik in der Krise zügig und zielgerichtet handeln. Die Hilfen müssen aber auch zeitlich begrenzt sein. Zudem dürfen erforderliche Ausgaben, etwa zur Bekämpfung des Klimawandels, nicht mit immer neuen Schulden finanziert werden. Deutschland hat bereits jetzt große Steuertöpfe. Die für die Mobilisierung privaten Kapitals erforderlichen Anstoßinvestitionen der öffentlichen Hand ließen sich leicht aus bestehenden Mitteln finanzieren. Auch eine Priorisierung der Ausgaben im Haushalt ist in Zeiten knapper Kassen ein probates Mittel. Nach der Krise zählt jeder Euro doppelt!
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